Poetik
Gaia Grandin

Dimension physique du langage
qui donne corps à la pensée
– Merleau-Ponty

0
Vor dem Anfang findet etwas statt.
Man liegt in der Stille der Nacht.
Der helle Mond.
Über dem Bett das Parkett.
Die Schritte des Nachbarn.
Es ist dunkel und ich lausche.
Etwas kommt. Es nähert sich.

1
Ich entferne mich.
Ich gehe hinaus.
Ich spaziere am Fluss entlang.
Zum Wald.
Oder: ich fahre Zug.
Ich fahre fort.
Ich entfremde mich und lasse alles hinter mir.
Nur die Regenjacke nicht.
Ich schwimme im Meer. Südlich von Rom.
Oder in einem eiskalten Bach des Ring of Kerry.
Oder daheim.
So läuft es: Sitze am offenen Fenster, sitze vor der Wand.
Atme durch.
Und warte. Aufstehen, herumgehen
und vor dem nächsten Wort wieder hinsetzen.
Es ist wieder still.
Die Musik ist aus.

2
Es kommt nichts.
Ich treffe mich mit Levin und sage zu ihm Ich kann nicht schreiben.
Er ist heute bestimmt schon 25 km gelaufen und hat einen Zyklus beendet.
Und ich, ich kann nicht schreiben.
Muss auf die nächste Nacht warten.
Wenn etwas kommt, dann nachts.

3
Ich gehe zurück ins Bett.
Ich sage zu meinem Mann Ich konnte schreiben.
Er sagt Das ist schön und gibt mir das warme Paket,
fügt hinzu Sie schläft, aber saugt an meinem Unterarm.
Ich erzähle ihm, an was ich gerade schreibe.
Dann erzähle ich ihm, dass ich heute in der Seilbahn
über das Schreiben nachgedacht und mir überlegt habe,
früher aufzustehen, um vor dem Kurs »Digitale Technologie
und Informationssysteme« noch Zeit zu haben, um zu arbeiten.
Er sagt Visualisierung ist wichtig. Das mache ich oft.
Er schreibt meistens und ich meistens nicht.
So kommt es mir zumindest vor.
Es macht mich wütend, wenn jemand schreiben kann.
Warum fragt er es nimmt dir ja nichts weg.
Ich hatte heute 11 Minuten für mich.
11 Minuten, um nachzudenken.
Ich gebe ihm das schlafende Paket zurück.
Und dann kommt immer das Misstrauen gegen das,
was man geschrieben hat
sagt er.
Es lohnt sich mit Gleichgesinnten zu sprechen.
Keine Gefahr sich im Kreis zu drehen:
Schriftsteller schreiben immer über dasselbe.
Und das hat jemand gesagt, der viel klüger ist als ich.
Sie kreisen um ein Thema, gefangen in der Schwerkraft
des Kerns.
Das gilt wohl auch für Schriftstellerinnen.

N. B. Notizen machen. Über das Schreiben zuerst.
Über das nicht-Schreiben vielleicht.
Es hilft.

4
Ich denke oft, ich werde nie wieder schreiben können.
Dann denke ich an Linda Boström Knausgård.
Ihr Erzählband steht in meinem Schrank.
Es ist ihr zweites Buch. Ich habe die ersten Seiten gelesen.
Ich will weiterlesen, sobald ich Zeit habe.
Ihr Mann schreibt viel und ist indiskret.

5
Ich lese momentan Tomas Espedal »Gehen«
Ich rege mich auf. Es ist gut.
Provozieren und Klischees verbreiten, ist das gut?
Wie Espedal über das Gesicht der Lyrikerin schreibt.
Und über das Gesicht der Schwester der Lyrikerin.
Augen.
Und über den Arsch der Frisörin.

6
Es gab für diesen Text eine andere Nummer 4,
aber ich habe sie leider vergessen.
Ich war zu faul, um aufzustehen und sie zu notieren.
Man darf nicht faul sein, wenn man schreiben will.

Jetzt ist mir Nummer 4 wieder eingefallen:

Nie mehr Schreibworkshops leiten.
Ich fühle mich dabei wie eine Hochstaplerin.

Ich fühle mich beim Schreiben zumeist wie eine Hochstaplerin.
Aber manchmal auch wie ein Genie.
Und dann schäme ich mich.
Für all die Wutanfälle im Leben.
Wer will das lesen? denke ich dann.
Aber: jetzt bloss nicht alles löschen.
Es muss etwas bleiben.

7
Das ist der Anfang.
Eine Welt erschaffen.
Etwas sichtbar machen.