Ich singe dir die Wolken (Zyklus, Auszug)
Tom Schulz

Für Maria Borio

Wie du einen Apfel schälst, ist ein Bild. Wie du ein Ei pellst
ist ein Bild für sich. Unmöglich es festzuhalten, unmöglich
deine Finger loszulassen. Welche Tür du öffnest, wie das
Wort Sanftmut in die Welt kam, weiß ich nicht. Nur, dass
ich die Spitzen deiner Haut berühren muss. Was heißt
von dir zu mir ? Durch Transiträume, inmitten einer Hauptstadt
der Luft. Von dir zu mir : Durch Treppenländer, auf der
Schwelle, den Gleisen. Im Korridor über den Alpen
zwischen beiden Meeren, über einem Niemandsland
längst außerhalb der Drei-Meilen-Zone ?
Wenn dein Mund eine Küste ist, erreiche ich den Strand
und jene Woge. Die Welle, die wir sind. Welches Fenster
du öffnest, wie die Finger laufen lernen, sanft, und alles
weich und weiß wird, schreib ich : Wie du ein vier Minuten
lang gekochtes Ei isst, ist ein Bild für Götter.

Ich singe dir die Wolken, sehr weit oben
sind sie weiß ? Und was heißt blau oder
das Blaue vom Himmel, die Bänke, Kumulus-
Wolken, wie eine Herde Schafe ziehen sie
vorüber. Halte den Augenblick fest.
Hinter der Brücke, angeleint, wartet ein Hund
auf Frauchen oder seinen Herrn, bellt um
die Wette, bellt ein Gedicht: von Wolken
von der Pracht. Ich singe dir ein grünes Blatt
es fällt herab. Wer tritt es in den Lokus, wer
trägt die fremde Huthälfte auf dem Kopf ?
Geh ich, seh ich das Haus, zu weit, weit weg.
Ich singe dir ein anderes Blau, ich singe dir
die Spitze des Eises und der Berge, stehe ich
vor der Traufe, singe, singe für dich.

Die Hirschkuh, die wir sahen, stammt aus dem 16.
Jahrhundert. Alles schien golden, auch unser Atem
in der Winterluft. Ein Mann saß schlafend vor der
Kathedrale. Auf den Mosaiken die Tiere, unversehrt
und der Schäfer. Pastorale, Pesca. Wir aßen pinkfarbenes
Gebäck. Nur Bettler und Hausierer werden
aus dem Weltkulturerbe vertrieben. Auf den Stufen von
Sant’Apollinare umarmten wir einander. Die Entfernung
zwischen uns: mit jedem Hauch geringer. Wenn man
die Stadt ans Meer zurück versetzen könnte. Wenn wir
die Liebe unter allen Menschen ausrufen könnten, wenn
wir uns küssen. Als das Wasser nicht mehr weiter floss
standen wir an einem Siel. Als wir wussten, dass
das Wasser versickern würde. Als wir hörten, dass die
Böschungen abrutschen. Als die Brücken nachgaben.

Eine Wolke bist du in einem Kleid. Du wandelst und
schläfst, beinah ein halbes Jahrhundert. Legst plötzlich
alles Nützliche in eine Kommode. Verschließt die Fenster.
Deine Brauen sind Falter, der Baum hat Federn. Dieser
Vogel zwitschert zwischen Winter und Februar. Zunge
spricht wahr, küsst Salz und Eis. Du bist eine schwarze
Wolke in einem Kleid. Dein Haar wiegelt das Licht auf
in der Kastanie. Meerkatze, Seelöwin liegt auf der Lauer.
Wenn ich den Kopf zwischen deine Brüste lege, höre
ich die Welt. Höre sie schlagen, wenn ich in deinen Schoß
komme, sind Anfang und Ende versöhnt. Unmöglich, dein
Herz erreichen zu wollen, ohne es über alles zu preisen.
Du bist das Singen, der Ton aus warmem Holz. Du kämmst
dein Haar mit einem zerbrochenen Kamm. Du schenkst mir
Brunnen. Fülle, was ich dir geben kann, Sterne und Samen.

[…]