Editorial

Das neue OSTRAGEHEGE widmet sich zwei großen Themen: dem literarischen Leben in der Schweiz und dem Kontext von Flucht und Vertreibung.

Daniel Rothenbühler hat für OSTRAGEHEGE, quer durch die Schweizer Sprachenvielfalt, eine Auswahl von Autoren und Texten getroffen, die es in sich hat. Seine Intentionen waren: Verflechtungen hervorzuheben, wie sie gerade in kleinen und kleinsten Literaturen besonders häufig zu beobachten sind, und Texten den Weg in den ganzen deutschen Sprachraum zu eröffnen, denen der Buchmarkt trotz ihrer Bedeutsamkeit wenig Chancen zu einer größeren Verbreitung bietet. Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt dieses Ansinnen zur Erweiterung des Dialogs durch eine großzügige Mitfinanzierung, dafür sei ihr hier herzlich gedankt.

Die Textauswahl wird durch ein inspirierendes Gespräch begleitet, das Rothebühler mit Friederike Kretzen und Michael Fehr geführt hat. Friederike Kretzen plädiert darin dafür, die Sprache aufzubrechen, »weil sonst keine Luft mehr reinkommt. Beckett sagt, man muss Löcher in die Sprache bohren, um das zu sehen oder zu hören, was dahinter hockt. Im Grunde ist es dieser Vorgang: Löcher bohren, Risse machen, aufbrechen.« Michael Fehr fordert mehr Empathie vom Leser: »Ich glaube, diese Bereitschaft, die eigene Empfindsamkeit als das Instrument, das uns überhaupt zur Wahrnehmung von Kunst, aber auch zum Machen von Kunst befähigt, das wird im Moment, glaube ich, gar nicht ein gesetzt. Empfindsamkeit wurde eingetauscht durch Befindlichkeit. Und das heißt, jetzt sehr kurzschlüssig formuliert, alles, was mir auch nur leichtestens unbequem ist, darf nicht sein.«

Im Zentrum des Schwerpunktes zum Thema Flucht und Vertreibung steht das Interview mit Ulrike Draesner zu ihrem großen Roman »Die Verwandelten«. Die Frage nach der Gewalt gegen Frauen, die in diesem Roman thematisiert wird, »führte unmittelbar in einen kollektiven, gesellschaftlichen Raum«, sagt Draesner: »Zum einen durch den politischen Kontext, den Nationalsozialismus, und die mit ihm einhergehenden Formen von Missbrauch, Gewalt und Menschenverachtung. […] Ungewöhnliche Charaktere zu erzählen, Figuren Schicht um Schicht zu zeigen und dann noch einmal einen Innenraum zu öffnen, ist das Erzählprinzip dieses Romans. Widersprüche treten hervor, tiefe Gefühlskonflikte.«

Olga Martynova verabschiedet sich als Gastredakteurin von OSTRAGEHEGE mit der Vorstellung der Berliner Dichterin Anna Hetzer. Die Redaktion dankt Olga Martynova für zwei spannende Jahre der Zusammenarbeit. Anna Hetzer schreibt über ihre Arbeitsweise: »Die Flaneuserie ist für mich dabei nachwievor eine bevorzugte Art, mein Material zu sammeln. Dazu zähle ich jedoch nicht nur das Umherstreifen und sich Verlieren im urbanen oder ländlichen Raum, sondern auch den Spaziergang durch Literatur, Film und SocialMediaFeeds.«

Heinz Weißflog stellt die Dresdner Malerin Mandy Friedrich vor: »Ein heftiger, gestischer Duktus bestimmt ihren Farbauftrag. Ob ein Blick auf die Elbschlösser, eine Heuernteszene auf freiem Feld oder einen rotglühenden Acker im Gebirge, es entsteht ein Eindruck von Freiheit und Unbegrenztheit, aber auch einer tiefen Erdverbun denheit. Dabei geht Mandy Friedrich an die malerischen Grenzen: Die Lokalfarben vor Ort werden in expressive Valeurs umgesetzt: Feurige Rottöne, Violetts, Orangegelbs, lichte Blaus und ein tiefes, floureszierendes Grün dominieren.«