Agafja Sergejewna wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das war wieder ein Tag gewesen! Die letzten paar Monate hatte sie in einem klapprigen Kiosk unweit ihres Hauses Zigaretten und Piroschki verkauft. Natürlich hatte sie auch anderes im Regal, aber irgendwie wollten die Leute gerade das. Übrigens – aber das bleibt jetzt unter uns – betrieb Agafja Sergejewna ihren Handel mit diesen Teigtaschen nur im Geheimen! Der Kioskbesitzer hatte keinen blassen Schimmer von ihrer glorreichen Unternehmung. Jeden Abend füllte sie den Teig mit einer Mischung aus Kartoffeln und gebratenen Zwiebeln und platzierte ein gutes Dutzend künftiger Piroschki auf ein Kuchenblech. Das Blech war mit Butter beschmiert, und nicht zu knapp. Agafja Sergejewna war nicht geizig, obwohl sie wenig hatte. Während die Piroschki im Ofen waren, saß sie vor dem Computer. Das hatte sie von ihrer Tochter Nastjenka gelernt, die jetzt in Österreich lebte.
Gleich beim Heimkommen, noch bevor sie sich an die Piroschki machte, schaltete sie Skype ein und wartete auf Nastjenka. Und wenn die nicht online war, las sie Nachrichten in Google. Agafja Sergejewna liebte Nachrichten einfach! Gerade traurige. »Ach«, »Oh je«, »was ist denn nur los?«, »das sind aber Schweine!«, so klang ihre Begleitmusik zu den Ereignissen des Tages. Und auch diesmal hatte sie ihr gewöhnliches Programm abspulen wollen: arbeiten im Kiosk, Suppe mit Fleischklößchen aus der Dose, abends Piroschki, Nachrichten und Skype.
Aber obwohl der Weg nach Hause nicht mehr als fünf Minuten dauerte, passierte heute etwas, das Agafja Sergejewna in äußerste Erregung versetzte.
Sie verschloss die Tür zum Kiosk, vergewisserte sich noch einmal, dass wirklich zu war und machte sich auf den Weg. Sie ging langsam, denn in letzter Zeit schwollen ihre Beine an, dass ihr angst und bange wurde. Plötzlich fiel ihr ein, dass in ihrer Tasche noch ein Säckchen mit Mandarinenschalen lag und sie blieb stehen. Das gehörte in den Müll, was sollte sie es mit nach Hause schleppen! Sie machte einen Schwenk nach rechts, trabte zum Mülleimer. Die paar Extraminuten auf den Beinen bereiteten ihr nicht das geringste Vergnügen, aber der Gedanke an den Müll in ihrer Tasche verursachte ihr fast körperliches Unbehagen. Schließlich entledigte sich Agafja Sergejewna der Überreste ihrer Zwischenmahlzeit – und erstarrte plötzlich. Neben dem Mülleimer stand eine große Tüte, prall gefüllt mit allem Möglichen, vor allem Kleidung, und gleich daneben lag auf dem Boden ein achtlos zurückgelassener kleiner Topf.
»Das sind mir Leute!«, dachte Agafja Sergejewna. »Wie kann man denn nur so verschwenderisch sein? Ist doch ein gutes Töpfchen!« Keine Ungerechtigkeit duldend bückte sie sich mühsam und hob den Topf auf. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich um einen türkischen Kaffeekocher handelte.
»Das ist doch was!«, stieß Agafja Sergejewna hervor. »Jetzt kann ich Kaffee trinken! Nastka hat mir bei ihrem letzten Besuch doch eine ganze Packung mitgebracht, und ich hab die ganze Zeit nicht davon probiert. Werd doch nicht extra einen Kaffeekocher anschaffen. Aber jetzt gibt’s wenigstens mal echten Kaffee.«
Sie dachte nur einen kurzen Moment nach, dann schob sie den Kaffeekocher in ihre abgetragene Tasche, bückte sich noch einmal, schnappte auch die Tüte und ging fröhlich nach Hause. Der Aufzug kam und kam nicht, also musste sie die schwere Tüte selbst in den dritten Stock schaffen, aber sie ärgerte sich nicht, denn diesmal war sie ganz Vorfreude. Sie war wieder zehn Jahre alt und hatte endlich die ganzen Schätze gefunden, die Opa im Garten vergraben hatte!
Agafja Sergejewna streifte ihren Mantel ab und schlüpfte in die weichen Hausschuhe, dann setzte sie Wasser auf und schleppte die Tüte hinüber ins Zimmer, wo mehr Licht war. Was war das doch für ein Genuss – von der Jagd zurückkehren und seine Beute besehen!
Eine halbe Stunde später lagen zwei Haufen vor ihr: nutzloses Gerümpel (der kleinere) und Kostbarkeiten (der größere). Beim Blick auf die Ergebnisse ihrer Mühen brach Agafja Sergejewna in Lachen aus.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. »Och!«, rief sie aus und griff nach dem hölzernen Nudelholz, das ihr von allen gefundenen Schätzen wahrscheinlich die größte Freude bereitete. Nach dem türkischen Kaffeekocher, versteht sich. Aber ins Zimmer trat Nastja.
»Nastjenka!«, stammelte sie. »Was machst du hier?« »So was nennst du Empfang, Mama!«, lachte Nastja. »Ich hab im andern Zimmer geschlafen. Vielleicht schaust du mal auf den Kalender? Ich hab dir doch geschrieben, dass ich am 16. morgens komme.« Agafja Sergejewna blickte zum großen Abreißkalender rüber, der an der Wand hing. Wirklich, der 16. Während sich Agafja in Gedanken noch das Nudelholz wieder und wieder über den Schädel zog, hatte Nastja schon ihre Arme um sie gelegt.
»Großer Gott«, stöhnte Agafja, »und ich hab gar nichts zum Essen gemacht, nichts vorbereitet, ach, ich bin schon ganz blöd geworden mit dieser Arbeit und überhaupt, weißt du, was hier rundherum für Sachen passieren, hast du Nachrichten geschaut?«
»Lass mal, heben wir uns das Schlechte für später auf. Außerdem ist es schon spät und so spät esse ich eh
nichts mehr … Und für morgen habe ich so ein spezielles Müsli, das dämpfe ich.« »Mager bist du geworden!«, schnatterte Agafja. »Die haben dich ganz krank gemacht mit dieser Arbeit. Du und Pflegerin, das geht doch nicht gut, du bist doch ein ganz anderer Typ. Aber Hauptsache, du bist daheim. Wenigstens für eine Woche. Schön hast du’s mit deinem Urlaub eingerichtet.«
»Ich bin nicht mager geworden! Der Pulli ist nur so. Alles in Ordnung. Ich esse in der Krankenhauskantine, und zwar nicht gerade wenig. Und was ist das hier?« Nastja zeigte auf die beiden Haufen. Agafja Sergejewna erzählte ihr die erstaunliche Geschichte. »Sowas! Das sind ja lauter Klamotten, die probier ich gleich mal an! Und riechen auch noch gut. Die haben das Zeug ja gewaschen, bevor es auf den Müll ging!«, sagte die junge Frau verwundert, während sie sich schon einen schwarzen Blazer überzog. »Zara! Ich werd verrückt! Und eine Tasche von Mango. Die mögen scheinbar das gute Leben. Wer das wohl war …?«
»Ich weiß, wer’s war«, erklärte Agafja Sergejewna stolz, »hab‘s rausgefunden.« »Wie das denn?« Nastja hatte nicht verstanden. »Hör zu und staune! Hier sind auch Medikamente, eins davon gegen Asthma, das kenn ich nämlich – Ventolin. Deine Tante – ich meine, bevor die starb, hatte sie Asthma, und da hieß es nur, Ventolin hier, Ventolin da, ihr bester Freund war das damals. Und dabei ist der Müll von uns und nicht von jemand anderem. Aus unserm Hof, hundert Prozent, und hier bei uns sitzt der einzige Asthmatiker bei den Kotscheryschkins. Weißt du noch? So ein dicker, Iwan Andrejewitsch, ihr Sohn Kolka ist mit dir zur Schule gegangen. Und ich hab mir gleich gedacht – die sind das.«
»Spinn doch nicht rum! Weißt du, wie viele Leute Asthma haben? Und vielleicht hat das Mittel auch verschiedene Wirkungen. Das hab ich bei uns im Krankenhaus gemerkt. Ich sitze zwar nur bei den Alten, deswegen weiß ich’s nicht für alle, aber ich sehe doch, dass die Medikamente häufig gleich sind, die Krankheiten aber verschieden …«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach die Mutter ihre Tochter, »noch lange nicht fertig! Dann war da in der großen Tüte nämlich noch ein Säckchen, mit lauter Zettelchen drin und Medikamenten und Rechnungen, und auf einer davon stand sein Name – Kotscheryschkin. Genau der! Und was das für Medikamente waren! Viele schon verfallen, aber manche auch haltbar bis 2018, und die haben sie weggeschmissen. Komische Leute, nicht? Manches davon kann ich sogar brauchen – Troxevasin und Tabletten für die Leber. Das ist doch ein Vermögen wert!«
»Schau mal, Mama! Stell dir vor, die Jeans passen! Und von wem sind die? No -Name. Sieh einer an, die legen wohl keinen Wert auf ihren guten Ruf. Sitzen aber gut. Die Bluse ist ein bisschen klein, schade, sie gefällt mir. Zum Verrücktwerden, so viel Kleidung. Und was ist in dem kleineren Haufen?«, fragte Nastja. »Da werd ich nicht schlau draus, irgendwelches Gerümpel«, winkte Agafja Sergejewna ab. Nur bei der Handcreme bin ich nicht sicher. Kann ich eigentlich gebrauchen, aber die riecht komisch. Schau mal drauf, da steht was auf Deutsch.«
»Mama!«, erregte sich Nastja, »Ich hätte dir zehn Cremes mitgebracht. Kannst du nichts sagen, wenn du was brauchst?« »Ist nicht so wichtig, ich frage nur so. Wenn die Creme was wäre, würde ich sie nehmen, aber extra eine mitbringen – das muss wirklich nicht sein.« Nastja begann zu lachen. »Was ist denn?« »Lubrikant«, las die junge Frau vor, »Lubrikant, Mama, keine Handcreme.« »Und was ist Lubrikant? Ein Unternehmen?«, fragte Agafja Sergejewna. »Gott, nein«, lachte Nastja, »Das ist … für Sex.« »Für Sex?«, rief Agafja ungläubig aus. »Wozu das denn! Die sind bestimmt fünf Jahre älter als ich, mindestens, und er hat auch noch Asthma. Nicht schlecht.« »Die haben hier ’ne ganze Sammlung!«, kicherte Nastja, während sie die Dosen musterte. »Erdbeere, Banane, und die hier ist noch gar nicht verfallen! Und da steht wirklich alles auf Deutsch. Ich glaub, die nehm ich mit«, sagte Nastja etwas verlegen.
»Für Sex?« Agafja wurde neugierig. »Die sind ganz schön teuer!«, ereiferte sich die Tochter. »Fünf Euro, mindestens fünf, kostet so eine Dose.« »Ja, ach so, jetzt ist alles klar«, schwenkte Agafja gerade noch rechtzeitig ein. »Die ganzen Lacke sind eingetrocknet, aber, andererseits, mit ein bisschen Azeton kann man die wieder verwenden, trotzdem brauchen wir sie nicht, also weg damit. Hier die Haarnetze sind doch neu, warum behältst du die nicht? Und die Perlen in der Keksschachtel! Du stickst doch, oder? Die bleiben auch.«
»Schau mal, das Nudelholz! Hast du sowas schon mal gesehen?«, teilte Agafja ihre Begeisterung. »Und ein türkischer Kaffeekocher. Endlich kann ich deinen Kaffee trinken! Und Stiefel. Passen mir nicht, sind aber gut. Die trage ich zum Second-Hand, da verdiene ich sogar noch was dran. Außerdem«, Agafja Sergejewna senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, »ein Buch! Tarot und die Reisen des Helden heißt es. Man sieht gleich, ein gutes Buch, und teuer. Ich werde wohl meine Karten vom Regal holen. Das ist ganz sicher ein Zeichen. So ein Buch ist eine Seltenheit!«
»Na, das auf jeden Fall«, gab Nastja zurück. »Mensch«, sie wechselte schnell das Thema, »wir haben uns ganz schön verquatscht, weißt du, wie spät es ist? Ein Uhr nachts schon!« »Ja, Zeit zu schlafen«, wollte Agafja sagen, aber sie kam nicht bis zum Ende. Plötzlich war alles dunkel. Aus dieser behaglichen und freigiebigen Dunkelheit zog sie nur einen Wimpernschlag später ein durchdringendes Geräusch wieder ans Licht.
»Morgen? So schnell?«, fragte sie sich mit geschlossenen Augen. Die Lider wollten sich nicht heben, aber der ekelhafte Wecker krächzte aus vollem Hals. Agafja Sergejewna sah jetzt, dass sie am Tisch eingeschlafen war. Vor ihr lag aufgeschlagen das Buch Tarot und die Reisen des Helden, unwillkürlich fiel ihr Blick auf den Satz: Schlussendlich erreichte der Held die Quelle des lebendigen Wassers. Das Schwierigste ist immer die Suche danach. In einem selbst.
Sie streckte sich, sah sich im Raum um: Überall lag Kleidung. Sie warf einen Blick in Nastjas Zimmer. Leer. »Wo ist die denn so früh schon hin?«, dachte sich Agafja. Sie sah noch einmal genauer hin. Auch ihre Sachen waren nicht da. Was war los? Dann ging sie zurück in ihr Zimmer, als erwartete sie, dass sich Nastja irgendwo dort zusammen mit ihrem Koffer versteckt hielt. Sie warf einen Blick zur Wand, das bewegliche rote Kalenderbändchen war auf dem gestrigen Datum, dem 16., stehengeblieben, seitdem hatte es niemand bewegt. Agafja Sergejewna ging zum Kalender, als könnte gerade er ihr erklären, was eigentlich vorgefallen war.
Und so war es auch. »November«, las sie laut. »Aber Nastja kommt doch erst im Dezember! Genau in einem Monat.« Agafja Sergejewna schlich rüber in die Küche. Sie öffnete eines der Schränkchen, holte die Packung »Lviver Kaffee« hervor, die ihr Nastja bei ihrem letzten Besuch geschenkt hatte, und zauderte. Sie würde den doch nicht etwa selbst aufmachen und die Chance verpassen, ihn weiter zu verschenken? Sie nahm die Schere, schnitt eine Ecke weg. Zaghaft gab sie zwei Löffel in den türkischen Kaffeekocher, goss Wasser ein und stellte den Herd auf kleine Flamme. Sie ging keinen Schritt weg. Sie würde also trotz allem zum ersten Mal in 54 Jahren echten Kaffee kosten.
Aus dem Russischen von Jakob Walosczyk