Die 1971 in Dresden geborene und heute in der Oberlausitz lebende Lyrikerin und Prosaautorin Manuela Bibrach hat schon seit Jahren viele Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien gehabt und auch etliche Preise gewonnen, so etwa beim Feldkircher Lyrikpreis oder beim Irrseer Pegasus. Auch ein Stipendium des Freistaates Sachsen in Breslau erhielt sie im Jahr 2018. Bisher gab es allerdings von ihr noch keine Einzelveröffentlichung, sieht man einmal von einem ihren Gedichten gewidmeten schmalen Heft aus der Reihe der »Zündblättchen« ab, welches 2016 in der Edition Dreizeichen in Meißen erschien. Diesem Mißstand hat nun mit dem Band »Radios mit Naturstimme« der Verlag von Dr. Harry Ziethen in Oschersleben abgeholfen, in dessen Literaturzeitschrift »oda – Ort der Augen« Bibrachs Gedichte schon des Öfteren vertreten gewesen waren.
Ein gelungenes Zusammenspiel der Gedichte Manuela Bibrachs und der Zeichnungen des Berliner Künstlers und Verlegers Pètrus Akkordéon zeichnet den Band aus, der im Oktober vergangenen Jahres aufgelegt wurde. Ins Auge fällt eine surreale Verspieltheit sowohl der Texte als auch der Bilder, wie etwa in Bibrachs letztem Buchkapitel, welches sich auf Gemälde unterschiedlichster Epochen bezieht: Der Kapiteltitel »van Goghs Mandelblüten« kontrastiert mit Akkordéons Sonnenblumen, die eindeutig den Charakter von Totenschädeln vermitteln: als ob sich die unterschiedlichen künstlerischen Räume zuweilen mit gewollt gegensätzlichen semantischen Anspielungen ineinander übersetzten.
Der Buchtitel »Radios mit Naturstimme« scheint auf den ersten Blick menschengemachte Kommunikationstechnik und die sich akustisch manifestierenden Phänomene des Ursprünglichen, Nichtmenschlichen zusammenzuführen. Doch wirft diese naheliegende Rezeption auch Fragen auf: Benötigt denn die aus den Gedichten sprechende Natur überhaupt ein gesondertes Medium, um sich mitzuteilen? Ist dem modernen Menschen das Ohr endgültig abhandengekommen angesichts der den Sehsinn überschwemmenden Bilderflut seiner Epoche? Ist das Ohr tatsächlich verloren für alles, was leiser ist als der Grundsound der eigenen Geschäftigkeit und der selbstverliebten Pseudo-Relevanz, leiser als die treibenden Beats und die Kakophonien eines selbst abseits der Metropolen urbanisierten Daseins?
Genauso stellt es sich wohl dar, und deshalb braucht es das »Radio«, vielleicht sogar gerade in Form des so leise daherkommenden Gedichts, als Metapher für eine Vermittlungsinstanz, den Verstärker für das lautliche Jenseits der Sphäre, in welcher sich der vermeintlich zivilisatorisch hochgerüstete Mensch heute mehrheitlich befindet. Die direkte Wahrnehmung des Natürlichen scheint gänzlich aus dem Bereich des Vorstellbaren verschwunden zu sein in der jahrzehntelangen Gewöhnung an das medial Vermittelte, das stets mehr braucht als nur Schallquelle, Luft und Ohr, um die Grenzen des Wahrnehmbaren zu überwinden. Das Geräusch, der Subtext der Natur, erfährt in seiner Medialisierung jedoch auch eine Transformation; es erhält nicht nur eine sinnliche und eine semantische Zuschreibung, zugleich deutet es sich um und es wird umgedeutet. Die »Naturstimme« erreicht uns durch ihre »Radios« eben gerade nicht mehr als Natur, sondern als permanente anthropologische Überformung. Das lyrische Programm hinter dem provokanten Titel Radios mit Naturstimme ist so auch ein Spiel mit dem vielzitierten McLuhanschen Diktum »the medium is the message«, als riefe Manuela Bibrach dem kanadischen Meisterdenker zu: »No, nature is the message behind all mediation«. Bibrachs Texte machen gerade auch auf diese Wechselwirkungen aufmerksam, die sich bei ihr freilich aus einem profan-sinnlichen Reizkonvolut in feine lyrische Bilder erzeugende Sprachkunst übersetzen.
Immer wieder begegnen wir ungewöhnlichen Blickwinkeln und Bezügen in den Gedichten von Manuela Bibrach, etwa dem Weltuntergang aus der Perspektive einer Sternschnuppe oder dem »Schnappschuss ’86«, welcher eine Familienfotografie und ein Bild des Präraffaeliten John Waterhouse lyrisch melangiert und die nur scheinbar unschuldige Idylle durch die wie beiläufig eingestreute Erwähnung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gebrochen wird. Eine recht eigenwillige Gestaltung der Versumbrüche in Bibrachs Texten schafft oft mehrdeutige Sinnzusammenhänge, und phonetisch reizvolle Neologismen wie »du tiriliebst mich« oder die lautmalerischen »Schmackaduzien« sorgen für einen lyrischen Duktus von nicht selten hohem Wiedererkennungswert.
Doch auch die Vereinzelung der menschlichen Existenz ist Bibrachs Thema, durchaus auch jenseits eines Bezuges zu wie auch immer gearteter und medialisierter Natur, was etwa in den beiden mehrteiligen Gedichten Shit Box (»das ist was uns verbindet / Paranoia im Quadrat mal Ypsilon / plus Angst vor klebrigem Direktkontakt«) und Defekte (»… sitzt A auf der Terrasse kritzelt / seinen Namen und Adresse / auf Kuverts die er / verteilt an alle die / sich nicht dagegen wehren«) zum Ausdruck kommt.
Auch wenn eine nur angedeutete Harmonie besungen wird, so fehlt doch nie ein Element des Zweifels, des Gegensatzes, ja gar der Zerstörung: »[…] weißt du noch / wie es plötzlich still wurde / (wir hatten gerade ein paar / Mandarinenten ausgesetzt – reizend / vor allem die Männchen) / als unvermittelt eine Kastanie / einschlug detonierte / und alles verschwand«.
Die lyrische Welt der Manuela Bibrach ist jedoch keine larmoyante Klage über irdische oder menschliche Unvollkommenheit, sondern ein genaues Hinsehen, ein Arrangement treffsicherer Metaphern, die im Ganzen ein merkwürdig adliges Gefühl hinterlassen: als habe sich im Kleinen Großes abgespielt, als stünden die beschriebenen Ereignisse im unwiderruflichen Zusammenhang mit dem Weltgeschehen, als seien sie »fragile Signale« für die Gesamtheit des Lebens und der Welt.
Manuela Bibrach: »Radios mit Naturstimme«, Gedichte mit Grafiken von Pètrus Akkordéon und einem Nachwort von Patrick Wilden, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2023, 96 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-86289224-2.