Rot, Blau, Gelb – Rechteck, Quadrat, Dreieck – diagonale, waagrechte, senkrechte Linien: das sind zentrale Elemente einer Gruppe von Fotografien, die Frank Höhler als »Sehübungen« beschreibt. Entstanden seit 2006 bis hinein in die Gegenwart, manifestiert sich in ihnen ein Blick, der die Welt als Formenreservoir begreift, das es zu entdecken und fotografisch herauszuarbeiten gilt.
Frank Höhler, geboren 1955 in Magdeborn bei Leipzig, ist vor allem bekannt als Fotograf der Dresdner Philharmonie, die er von 1988 bis 2010 begleitete. Seine einfühlsamen Porträts von Dirigenten, von Musikerinnen und Musikern während der Proben fanden zuletzt ihre Fortsetzung in einer umfangreichen Serie zu Künstlerinnen und Künstlern, die er in ihrem Arbeitsumfeld fotografierte – der Raum ein Spiegel des Tuns, das Gesicht ein Spiegel des Seins. Das Porträtwerk, das noch viele weitere Facetten aufweist, gehört zu dem Teil von Höhlers Werk, der als dokumentarisch verstanden werden kann. Dazu zählen seine Aufnahmen des Dresdner Stadtbildes aus den 1980er und 1990er Jahren, ebenso die beiläufigen Beobachtungen des Alltags auf der Straße, die vom Leben in der späten DDR und der Umbruchszeit der Wende erzählen, aber auch seine unter dem Titel »Transit« zusammengefassten Arbeiten, die auf den weltweiten Reisen mit der Philharmonie entstanden.
Doch durchzieht auch diese wie viele andere seiner Aufnahmen, was in den »Sehübungen« intensiviert wird: Die formal-ästhetisch motivierte Suche nach Formen und Strukturen, die unsere gebaute wie die natürliche Umwelt durchziehen. Das mögen Reifenspuren auf dem Dresdner Neumarkt im Schnee oder steinerne Treppenstufen in der barocken Anlage von Großsedlitz sein. Fotografiert in der Aufsicht oder im eng gefassten Ausschnitt, werden die Motive einem erzählerischen Zusammenhang entnommen und zur grafischen Komposition, in dieser Wirkung noch verstärkt durch das zusätzlich von der Wirklichkeit abstrahierende Schwarzweiß.
Schon Mitte der 1980er Jahre fotografierte Frank Höhler die durch Dresden verlaufenden dicken, wulstigen Fernwärmerohre als nahezu skulpturale Objekte, die aber doch noch in ihrer Funktion erkennbar bleiben. In den Aufnahmen der »Sehübungen« wird hingegen das abstrakte Potential solcher technischer Infrastruktur und moderner Industriearchitektur hervorgehoben; viele dieser Orte besuchte er auf Fotoexkursionen mit seinen Kollegen aus der »ASA Gruppe Fotografie«, die er 2008 als im Interesse vereinten Zusammenschluss von vier Fotografen mitgegründet hat. Das kann ein Kraftwerk in der Lausitz sein, ein Schulgebäude in Baden-Württemberg, eine Papierfabrik in Eisenhüttenstadt oder eine Fischfabrik auf Island. Die metallenen Rohre einer Industrieanlage werden im Hochformat zentriert, sodass das Ypsilon, zu dem sie sich formen, als solches akzentuiert wird. Verweisen hier Rost- und Schmutzspuren noch auf eine Nutzung, so sind andere Aufnahmen gänzlich »cleanen« Charakters: reine Farbflächen, von der Sonne angestrahlt hell leuchtend, metallene Gitterkonstruktionen oder spiegelnde Glasfassaden. Die Bilder changieren zwischen einem Rest von räumlich zu begreifender Gegenständlichkeit und abstrakter, flächiger Komposition.
Frank Höhler verortet sich mit diesen Fotografien in einer Tradition, die ihre Ursprünge im Neuen Sehen der 1920er Jahre hat, als es darum ging, die Wirklichkeit in radikal neuen Perspektiven nicht zu erfassen, sondern zu deuten. Unter- oder steile Aufsichten, stürzende Linien und das Spiel mit starken Kontrasten stellten vor allem das Fotografische selbst heraus: das Bild der Welt, das nur mit spezifisch fotografischen Mitteln erzeugt werden konnte. Das »foto-auge« – so der Titel des 1929 erschienenen Buches von Franz Roh zu den stilistischen Mitteln der Fotografie jener Zeit – ist mit Höhlers Konzept der »Sehübung« durchaus verwandt. Höhler macht in seinen Fotografien sichtbar, was den Architekturen eigen ist, aber nur im gewählten Ausschnitt, durch die eingenommene Distanz zum Bild wird. Dafür arbeitet er mit eng gefassten Ausschnitten, um Flächen unterschiedlicher Farbe und Textur aneinanderstoßen zu lassen, die Wand, Fensterfläche, Dach oder Himmel sein können. Architektonische Details werden durch Heranzoomen zur geometrischen Form, Schattenwürfe zu Mustern. Und doch geht es ihm nicht nur um formale Studien, die Architektur ist für ihn Ausdruck einer funktionalisierten und genormten Welt, die nach fortwährender Optimierung strebt. Die Motive sind kaum mehr lokalisierbar, die Gebäude aus Glas, Stahl und Beton könnten in jedem beliebigen Industrieland stehen.
Teil der »Sehübungen« ist eine Werkgruppe, die aus Frank Höhlers Sichtung seines Bildarchivs hervorgegangen ist, auf der Suche nach Fotografien, die durch die Farbe Blau gekennzeichnet sind. Bereits seine 2009 in der Atacama-Wüste in Chile entstandenen Fotografien hatte er unter dem Titel »Blau« zusammengefasst. Doch die Farbe zieht sich in verschiedenen Schattierungen durch viele weitere seiner Bilder – im Moment der Aufnahme nicht immer intendiert, retrospektiv aber deutlich erkennbar. Das kann ein lackiertes Dach, der sich im Glas spiegelnde Himmel oder der gestrichene Boden eines kleinen Bootes sein. Dieses formale Element, das Motive aus ganz verschiedenen Kontexten zusammenführt und miteinander in Beziehung treten lässt, wird gewissermaßen nachträglich zum Konzept, das, als solches definiert, womöglich zu neuen Bildern führt wie auch der Fortführung mit anderen Farben harrt – die Filterung des Œuvres nach Rot kündigt sich bereits an.