Darwins Staubproben
Kristian E. Kühn
[Auszug]

Die Sprache des Bruders ist auf die Schwester übergegangen:
Voller Spannung habe ich natürlich die Ankunft der Staubproben Darwins erwartet, die unser Institut die Ehre hatte zu analysieren. Ich dachte mir, Emily, das ist deine Chance, dich zu profilieren, Hauptsache, du musst nicht niesen! Es ist nämlich nicht leicht, mit einer Allergie Staubproben zu untersuchen. Meine Augen brennen, mein ganzer Rachenraum ist unter Umständen entzündet. Das hängt auch vom Wetter ab. Wenn es regnet zum Beispiel, und das tat es, oder die Luftfeuchtigkeit hoch ist, kann ich bisweilen den Juckreiz in der Nase kaum unterdrücken. Und das alles nur, weil Vater, als ich noch ein Kind war, das eine Mal heftig mit unsrer Mutter stritt und ich traurig auf diese Wiese dann mit dem Fahrrad fuhr, mich erschöpft niederlegte und dort einschlief. Deshalb muss ich jetzt mein Leben lang gewappnet sein für plötzliche Anwandlungen, auch um meinen Arbeitsplatz nicht zu gefährden.

Das Berliner Museum für Naturkunde hatte uns ein bräunliches Reagenzglas mit der Sammelnummer 2897 geschickt, darauf ein verblichenes Etikett mit schwarzer Tinte: »Darwin« und »Beagle«. Ich war ja aufgeregt, bei einer der wichtigsten Versuchsanordnungen dieses Jahrhunderts beteiligt zu sein. Und als ich vorsichtig den Korken aus der Glasröhre ziehen durfte, um den rötlichen Puderstaub in kleinste  Portionen aufzuteilen, da, da wollte ich nicht versagen und schaute auf ein Bild, eins, das ich jeden Tag sehe. Es hing als Reproduktion im Labor – »Lily Weiß« von Jean Dubuffet. Es ist vorwiegend rotbraun und lila, mit Öl auf Sand gemalt. Und ich wollte, um von meiner Angst und dem drohenden Niesanfall loszukommen, mich ganz darauf konzentrieren, es mit Worten beschreiben. Aber als ich es so an mich holte, den großen runden Kopf mit kleinen runden Knopfaugen, die dreieckig hingeworfene Nase, einen winzigen halboffenen Kussmund, da wusste ich, dass ich es nie würde befriedigend wiedergeben können, dass mir die passenden Worte nicht einfallen würden, zumindest nicht in diesem Augenblick, vielleicht nie. Ich ärgerte mich darüber, dass es müßig sein würde, herumzustottern mit Hilfsbegriffen, die mich in meiner unglücklichen Situation nur noch unglücklicher machten, die zwischen den Wörtern Löcher hinterließen wie der Sand auf der Hartfaserplatte bei Dubuffet. Worte, die im Rhythmus nicht flossen und falsch waren in sich wie auch im Zusammenwirken von Farbe und Form. Je mehr Wörter ich auch aus mir fortschickte, desto falscher wurde das Beschriebene, desto weiter entfernte ich mich vom Bild, ja, ich würde, wenn ich so weitermachte mit meinen ungenauen Begriffen, das Bild am Ende ganz zuschütten, dass es nur noch ein geschwächtes Abbild war und im Nebel entschwand und ich ein schwammiges Etwas vor mir hatte. Wort für Wort würde ich es aufweichen, es würde fahler werden, luftiger, schließlich sich aufmachen und die Hartfaserplatte verlassen. Lily, rief ich, bleib da, denn mein Wille war das einzige, worauf ich jetzt noch setzen konnte, und ich würde nur noch eine Erinnerung an das Bild haben, ganz schwach, Scheinbilder würden umherirren, meine Worte Lautkombinationen ohne Bedeutung, ohne erkennbare Wurzeln.

Weil sich wohl zwischen deinen Worten kein heimlicher Raum aufbaute, entgegnete Emilys Bruder Jakob, dieser ist allerdings schwer zu bewerkstelligen. Da musst du üben und nicht verzagen, aber du bist ja keine Schriftstellerin, hast den Umgang mit Worten nicht gelernt. Denn ein Erinnerungsbild zwingt dich zwar zu sehen, aber es gibt dir an sich keinen Durchblick. Es ist ein Gespenst, flackrig und sehr wandelbar. Würden aber Worte ein Gewebe bilden, halbsichtbar wie dein Gespenst, dann würde die Struktur Raum lassen für Phantasie, so dass sich von neuem durch Vorstellungskraft das Bild an der Wand eröffnete.

Nein, sagte Emily, meine Worte brachten mir das Bild nicht zurück, sondern ich sah sie stattdessen selber vor Augen, wie sie sich häuften und gegenseitig verdrängten, plötzlich hatte ich nichts als Wortsalat vor mir, allerdings mit den kleinen runden Augen Lilys und der zugespitzen Dreiecksnase und dem halboffenen Strichmund. Doch der Sand, die Kontur, das Gesicht waren verschwunden. Irgendeine kleine Gesichte war mir noch im Bewusstsein, unbedeutend und ganz zusammenhanglos mit dem Bild oder mit mir überhaupt, als hätte eine Fremde die Sätze formuliert, und dann dachte ich mir, schreibe sie dir jetzt ins Gedächtnis, halte sie fest, um sie wieder und wieder zu memorieren, dann könnte ich die Worte austauschen bei Bedarf, jene, die gar nicht passten, und so könnte ich meine juckende Nase vergessen und versuchen, einen kleinen Fluss herzustellen, einen mit dem ich fortschwimmen könnte aus meiner prekären Lage, das Reagenzglas mit dem wertvollen Staub in der Hand, den ich entkorken musste, ohne zu niesen, und ich wusste, ich würde wie immer, wenn ich etwas zu formulieren hatte und es dann überprüfte und überprüfte, schließlich den Sinn nicht mehr verstehen und gar nicht mehr wissen, was ich schon gesehen hatte und was noch nicht, und ich würde wie ganz in der Ferne selber noch da sein, aber unter einem Traum stehen, der mich lebte und mit mir machte, was er wollte, und ich würde ihn nicht beherrschen und ich könnte nicht einhalten, wenn es mich – mittlerweile Nacht vor Augen – zur Balkontür zog, um sie zu öffnen, und ich würde durch die Tür treten wollen auf den Balkon, um wieder Luft und Leben einzuatmen, aber da würden zwei unsichtbare Arme mich packen und zu sich ziehen, und ich würde erschrecken und zittern, als platze ein rhythmischer Knoten.

Woher weißt du von Mallarmé, fiel Jakob dazwischen. Du hast doch nie Mallarmé gelesen, oder?

Ich sollte lieber die passende Musik auflegen, fuhr Emily fort, ohne auf Jakob einzugehen, um zu den richtigen Worten zu finden. Vielleicht eine, die mir eine fremde Sprache fast nur mit Vokalen eingab. Konsonanten sind, dachte ich mir, der Rhythmus, die Farbe, Vokale aber der Fluss wie die Strichführung eines Malers. Musik – ich dachte, Musik ist ja der Ursprung von Sprache, es müsste doch möglich sein, wenn ich jetzt die passenden Akkorde fände, dass sie sich öffneten und zu mir als Sprache kämen, vielleicht vorsprachlich, zwar nicht ganz zu verstehen, aber doch im richtigen Metrum, so dass ich losdenken konnte, improvisieren, vielleicht so schnell, dass es gar nicht möglich gewesen wäre, wenn ich gewollt hätte, sie laut herzusagen. Eine innere Tonfolge, moduliert wie sprießende Keime, die zu mir auf die Zunge kämen und sich öffneten, mich schwingen ließen in höchste sprachliche Höhen und tiefste Abgründe, vibrieren im Einklang mit meiner Beschaffenheit. Wenn ich das finden und öffnen könnte, diese Silbenfolge, so hätte ich, Emily Storm, endlich gewonnen, zumindest für ein paar Tage, und ich würde meinen Heuschnupfen gerade ganz vergessen. Doch dann müsste ich das Schweigen zwischen den Zeilen, zwischen dem Denken, wie du es ausdrückst, erlernen und ihm Raum geben, und nur richtige Worte finden, nicht die falschen. Plötzlich verdichtete sich in mir der Verdacht, als ich mir Musik vorstellte und sie schon hörte, meine derzeitige Lieblingsmusik, ooo wee von Kitty, Daisy und Lewis, weil sie so emphatisch interpretiert wird von den drei ungelenken Geschwistern, dass Musik gar nicht zu Sprache werden kann, sondern eine eigene ist. Dass Worte und Sprache hinzukommen, aber nicht aus der Musik sich entwickeln, sondern aus dem zusätzlichen Raum des Schweigens. Doch auch Schweigen kann ja Musik sein, wenn es lange genug anhält. Und auch Sprache, die unausgesprochen bleibt, sie wäre ein wortreiches Schweigen. Eine Forderung, ein Vermächtnis, wer weiß es schon. Dann fielen mir die Danaiden im Hades ein, wie sie zur Strafe ihre bodenlosen Krüge in den Fluss halten mussten, um mit diesen rinnenden Töpfen das Wasser zu schöpfen. Wie ich und meine Worte, dachte ich – meine Worte sind rinnende Töpfe, sie beschreiben, je länger ich mich um sie kümmere, immer weniger Inhalt. Ich bin eine Danaide im Hades, dachte ich, eine Frau mit Worten, die tropfen, statt einen Raum zu öffnen. Ich führe meine wässrigen Abbilder in den Hades, weil sie sich vor die zu beschreibenden Gegenstände und Bilder stellen, statt wiederzugeben. In meinen Worten spiegelt der Hades Schatten, Schlamm und luftigen Staub vergangener Abbildungen. Jetzt niesen, laut und mit Luftdruck, dann hätte ich ein für alle Mal den ganzen Dreck von Anhaftungen um mich herum fortgepustet. Zwar würden sich Darwins Staubproben mit dem profanen Laborstaub hier in Oldenburg mischen, mit Pollen von heute, die nicht aus Afrika stammen wie die Keime in jenem Staub, der aus Afrika kam, wie wir nachweisen wollten. Doch was ist irdischer Staub, ob aus Afrika oder Barbados, wo Darwins Schiff lag, als er den Staub vom Segel abkratzte, oder Balkonschmutz aus Oldenburg, was ist fliegender Dreck gegen die Vibration des rhythmischen Knotens einer menschlichen Beschaffenheit?

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