Familiengeschichten sind voller Löcher
Sylva Fischerová

(Aus dem Tschechischen von Daniela Pusch)

Familiengeschichten sind voller Löcher

Vater steht auf der Liste der Gestapo, die ihn immer wieder in Retschkowitz suchen kommt, davon wird Viola noch Jahre träumen. Also flieht er, landet in Holland, zunächst bei Bolenka, der Frau eines Kapitäns zur See, dann bei einer reichen Witwe, die fröhlich, lebhaft und kompliziert war – so wird es mir Jahre später ihre Freundin beim Kaffee über sie sagen. Vom besetzten Holland will er weiter nach England, doch werden alle beim Fluchtversuch verhaftet, er allein kann sich retten: Professor Fischer versteckte sich in einer Kiste. Ik had geluk, ich hatte Glück, lesen wir unter dem Zeitungsfoto. Von der Witwe kehrt er zurück nach Retschkowitz, doch erst im September 1945, was tat er die ganzen vier Monate?
– Familiengeschichten sind voller Löcher wie Emmentaler,
nie sagen sie uns alles,
nie sagen wir ihnen alles,
alles sagen ist untersagt,
da muss Luft sein
für die Ratten
im Emmentaler,
damit er wohin ziehen kann
Luftzug der Geschichte,
Luftzug der Dinge,
feine Dünste, freigebend Blicke
und Gesten.

***

Die Weltuhr klemmt: Brüssel

Die Weltuhr klemmt
ein toter Fuchs auf dem Boulevard du Triomphe
am Parkrand
steckt fest im Getriebe
wo sich im Leerlauf
Beamte in Euroanzügen
mit ihren Eurokoffern den Weg bahnen.
Ich blicke an die Wand
auf drei Reißzwecken:
Im Wohnheim Gandhi
erwartete mich nicht einmal
ein Betttuch.
(Dormir à Bruxelles de manière originale.)
Und die drei Reißzwecken
heften mich zurück
ans Wohnheim Větrník
zu den gelbroten Kacheln,
in die schizophrenen Achtziger:
Komm vor allem raus
zeig dich, geh
in die Welt hinaus.

Hätte mir damals jemand gesagt,
dass ein Vierteljahrhundert später
ich vom Flughafen Václav Havel
in die Hauptstadt
des vereinigten Europa fliege,
ich hättʼ ihn in die Klapse geschickt.
Die Europauhr aber klemmt
auch wenn das Fuchsjunge am See
uns einen weiteren Abend aus der Hand frisst
und ich ein neues Zimmer
im Wohnheim Lafontaine bekam
– mit Parkblick.
Eurobier floss in trägen, teuren
Strömen
und schmierte die Bankkonten;
Cognacs und Semikola pressten
Krawatten,
riefen einen Wettbewerb aus für Firmen-Magazine
GOLDENES SEMIKOLON;
im Museum ritzte Apollo ruhig
mit chirurgischer Genauigkeit
dem schreienden Marsyas,
der kopfüber hängt,
die Haut.
Diese Welt hängt
kopfüber,
hat Blutstau, kriegt
Thrombose.
Schon bald: coming soon.
A bientôt.
Flamen und Wallonen
sprechen auch nicht miteinander.
Und die Augen flämischer Madonnen
suggerieren Küchlein aus Weißmehl
und einen langsamen, beständigen Blutfluss:
Tag für Tag verlässt schleichend
das Leben den Körper.
Ikaros fällt leise
und ohne Anteilnahme der Zuschauer, jeder
hat hier schließlich etwas zu tun, sich was
vorgenommen, warum also
Aufmerksamkeit teilen.
In der Kühlbox
in schwarzen Muscheln
– eine lokale Spezialität –
wohnt das Geheimnis des lokalen Glaubens:
Fleisch und Leere
und Mehrwert.
Pack dich und flieg
nach Hause.

Katalanische Mütze

Dasselbe Mädchen
auf dem Tezenis-Plakat
wie in Prag an der Haltestelle:
Am Oberarm das Tattoo
eines Frauenkopfs,
unklar aber,
ob sie es selbst ist und auch, warum
sie es da hat –
und mich erinnert alles
schon an
etwas:
Boulevards wie
die Boulevards in Mailand,
ein See im Park
wie der See im Central Park,
ein Pavillon nebenan
wie der Pavillon in Olmütz
»Zu den Bienen«, wohin wir im Sommer
Biertrinken gingen.
Allein die Sagrada Familia
erinnert mich an nichts
wenn auch ein grüner Baum aus Porzellan natürlich
an einen grünen Baum aus Porzellan erinnern soll,
IST ES EIN BAUM
Wie viele Kräne es wohl hier gibt?
Und wie viele katalanische Flaggen
wehen an den Häusern ringsumher
inmitten von Wäsche und Unterhosen?
Gaudí wird bald
selig gesprochen
Gaudí beatus
und Picasso hieß mit vollem Namen
Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María
de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y
Picasso
und ich schrieb vor Jahren
ein Gedicht
Katalanische Mütze
über Worte, die nach uns
von oben
kommen
wie die Liebe oder der Regen:
Worte wie GOLDENE SCHREIE DER FORSYTHIE
Worte wie KATALANISCHE MÜTZE
Aber in Barcelona am Hafen
neben einer Palme mit grünen Papageien
und vor dem Denkmal des Christoph Columbus
der – imperiale Manier –
fordernd
gen beide Amerikas weist
– unten an der Säule
kniet vor dem Bruder in Kutte
ein Indianer mit Stirnband und küsst
das Kreuz,
küsst das Kreuz –
in Barcelona also am Hafen
verkaufen Schwarzafrikaner
(ebenso wie an toskanischen Stränden,
alles erinnert mich schon an alles)
grau-schwarz
melierte Mützen
und ich
kaufe
für ein paar Groschen
meinem Sohn
der neben
der Type vom Tezenis-Plakat steht
und den Kopf
auf dem Oberarm des Mädchens
vom Tezenis-Plakat betrachtet
eine katalanische Mütze

Amerikanisches Quartett

I. Old & New England

Und wieder das alte, berühmt-berüchtigte
Ausländergefühl:
Eine Kiste, in die
du gleitest
und in der du
hölzern
wohnen wirst.

Corn will compete with cotton
for investment.
(Wo? – Wohl in der Kiste.)

– Durch halb Heathrow rennen
in einer halben Stunde
wie beim Wettkampf, dazu wurden wir gedrillt
im Wehrunterricht
und bei den Pfadfindern: ewiger
Wettkampf der Ideologie…

Lass es hinter dir
und gönnʼ dirʼn Schnaps.

Mein nächster transatlantischer Flug.
Letztes Mal dachte ich noch, ich komme
in ein freies Land,
jetzt weiß ich aber, ich komme in
kind of a police state.

Any rubbish, please?
Also davon habe ich, liebe Dame mit dem Wägelchen,
im Kopf genug Blechdosen.
Mit Lake, Bohnen, Letscho
und mährischer Klobasse –
»Die kriegst du nie so
gut eingelegt hin,
das geht nur
mit Konserve.«
Die zersetzt alles mit ihrem Metall-Effekt,
mit Glanz und Haltbarkeit
im abgeschlossenen Raum.

Alle reden übers Geld,
Dollars und Pfunde klimpern im Kopf
wie Schrauben, rasseln durch
von Etage zu Etage
wie bei den Spielautomaten
am Strand von Brighton.
(Als wir uns noch liebten.)
Lass es hinter dir,
komm, gönnʼ dirʼn Schnaps.

In den Köpfen Rascheln von Papier,
gemindertem Wert
längst ausgestorbener Währungen.
Die Bewegung eines Gedankens
beginnt wellenartig
wie die Bewegung von Sülze,
aber vielleicht
ist es nur ein Halbgedanke, ein Tick
der Hirngrütze:
eine violette Windung
irgendwo im Zwischenhirn,
irgendwo im stumpfen Middlewest des Wissens
und Gewissens:
begrenzte Dorftrottelei
seiner wogenden
Getreidefelder.
Das aber führt entschieden
nirgendwohin
– vielleicht
in den Käfig der Metapher, aber
nicht hierhin
in den Park mit den bunten Stühlen,
verwoben mit Spinnennetzen und rotem Laub
des Bostoner Altweibersommers.
»John Harvard ist eine fabulierte Figur,
und sein berühmter Zeh
wird über Nacht geschrubbt
mit Schmirgelpapier.«
Bestimmt poliert man auch
das Laub, nirgends sonst
sah ich es so rot.

Both a New world
and the Old made explicit,
understood
in the completion of its partial
ecstasy,
the resolution of its practical
horror.

Lass es hinter dir,
komm, gönnʼ dirʼn Schnaps.

Bewegung eines Gedankens
Trockenübung
in die Hockʼ und wieder hoch
dann auf den Knien, auf den Knien
weißt auch nicht wohin –

sie hätten im erstummten Nachtflieger
auch die Eidechsen loslassen können.
Oder Tukane.
(Paviane?)
Nach ein paar Flugstunden
will ich immer
aufspringen
schreien
abartige Grimassen ziehen
zerstören den höflichen
beengten
Raum der Flugkonserve
wo man gerade
zweihundertachtundzwanzig gut eingelegte
mährische Klobassen produziert.
»Ich, ein Kosmos, Manhattans Sohn – «
du hättest doch das Flugzeug,
Walt W.,
in die Luft gejagt
allein durch deine Gegenwart.
Und dabei setzen wir die ganze Zeit bloß über
vom Old zum New
England.