Daniela Pusch im Gespräch mit Ondřej Buddeus, dem Leiter des tschechischen Literaturzentrums
Das tschechische Literaturzentrum nahm im Jahr 2017 seine Arbeit auf und schloss eine bis dahin bestehende Lücke in der Vermittlung der tschechischen Literatur nach außen. Sein Aufgabenbereich reicht von der aktiven Propagierung tschechischer Literatur im Ausland auf internationalen Veranstaltungen über die Gestaltung und Pflege des Internet-Portals Czechlit, das immer aktuell über Neuigkeiten in der tschechischen Literaturszene in zwei Sprachen (Tschechisch und Englisch) berichtet, bis hin zur Vergabe von Residenz-Stipendien für Autoren oder Übersetzer. Ondřej Buddeus, selbst Dichter, Übersetzer und ehemaliger Herausgeber der Literaturzeitschrift »Psí víno«, ist von Anfang an Leiter des tschechischen Literaturzentrums.
Wie nehmen Sie aktuell das Interesse an der tschechischen Literatur in der Welt wahr?
Mit einem Lächeln würde ich sagen: Es könnte immer größer sein als es gerade ist. Man kann aber auch nicht sagen, dass in der Welt kein Interesse an tschechischer Literatur bestünde, auch wenn sie sich sicherlich nicht mit der Literatur anderer Regionen vergleichen lässt. Es ist ja kein Novum, dass die Literatur einer kleinen Sprache unter dem Prestige der größeren leidet. Das wird etwa beim Vergleich mit den angelsächsischen Literaturen sehr deutlich, und eigentlich betrifft das auch alle anderen Literaturen in der Welt – die kleineren und die größeren. Beim Vergleich mit den skandinavischen Literaturen zum Beispiel lässt die tschechische Literatur ein typisches populäres Genre wie den Skandinavien-Krimi oder auch eine lokale thematische Exotik vermissen. Nicht, dass die tschechische Literatur das nicht haben könnte, aber es ist für die tschechischen Autor/innen gerade weniger ein Thema. Was nebenbei auch verständlich ist – einen Bohumil Hrabal hatten wir ja schon.
Eher interessant ist es zu sehen, wo es traditionell ein Interesse an tschechischer Literatur gibt. Eine solche Region wäre vor allem der Bereich Mittel- und ehemaliges Osteuropa. Der rege literarische Austausch mit Polen oder die völlig gängige Präsenz tschechischer Bücher (sogar auf Tschechisch) in der Slowakei sind wohl die markantesten Beispiele dafür. Außerdem gibt es im Osten Europas, etwa in den Balkanländern im weiteren Sinne, ein größeres Interesse an tschechischer Literatur.
Und wie ist es mit den Büchern? Kann man sagen, dass in Tschechien erfolgreiche Titel auch gute Chancen auf ein größeres Interesse im Ausland haben, oder gelten da eher eigene Gesetze?
Titel, die sowohl in Tschechien als auch im Ausland erfolgreich sind, gibt es natürlich. Einer wäre zum Beispiel Am See (OT: Jezero) von Bianca Bellová. Der Roman ist 2016 erschienen, wurde sofort mit dem bedeutendsten tschechischen Buchpreis, der Magnesia Litera, ausgezeichnet und dann auch mit dem Literaturpreis der Europäischen Union. Das Buch wurde bereits in fünf Sprachen übersetzt, darunter Deutsch und Französisch, weitere Übersetzungen sind geplant. Die Geschichte einer Familienaufstellung am Ufer eines im Austrocknen befindlichen Sees und vor der Kulisse einer postsowjetischen Welt kann als universales Gegenwartsbild gesehen werden – auf persönlicher wie ökologischer Ebene. Ein anderes aktuelles Buch mit ähnlich universellem Anspruch ist die Geschichte eines syrischen Flüchtlings auf der Suche nach seinem Bruder in kalter Wildnis, genannt Europa, die Marek Šindelka in seinem Roman Materialermüdung (OT: Únava materiálu) in einer beinahe filmischen Sprache beschreibt. Es ist kein Zufall, dass die Rechte für dieses Buch von Verlagen gekauft wurden, die von Tschechien bis Syrien sprichwörtlich an der Balkanroute liegen. Es stimmt schon: Beide Bücher sind irgendwo außerhalb der Tschechischen Republik verortet. Als bevorzuge ein Teil der Autoren andere Handlungsorte (dieser Trend hat übrigens in der Prosa der vergangenen zwanzig Jahre eine gewisse Tradition). Ein außergewöhnlicher Autor, der rein tschechische Themen in realistischer Weise bearbeitet, ist zum Beispiel der aus Südböhmen stammende Jiří Hájíček. Sein neuster Roman Der Regenstab (OT: Dešťová hůl) erscheint 2019 als erstes seiner Bücher nun auch in deutscher Übersetzung. Welche Reaktionen er auslöst, wird abzuwarten sein. Ich hoffe auf gebührende, weil es ein großartiges Buch ist. Und ich bin gespannt, ob dieses konkrete Beispiel auch als Antwort auf Ihre Frage dienen kann. Das gleiche ließe sich auch über Eine Geschichte des Lichts von Jan Němec (OT: Dějiny světla) sagen. Hier wird in einer spezifischen narrativen Form das Leben des tschechischen Avantgarde-Fotografen František Drtikol erzählt. Jetzt habe ich nur über Prosa gesprochen – bei der Lyrik würde die Antwort noch einmal anders lauten …
… nämlich wie?
Die Lyrik steht im Allgemeinen am Rande des Buchmarkts und seiner Strukturen, sie ist eher Trägerin symbolischen als ökonomischen Kapitals. Der Großteil der Lyrikproduktion zirkuliert sogar außerhalb des Buchmarkts, auch über die Landesgrenzen hinaus – in Form von Live-Auftritten, Veröffentlichungen im Internet, Zeitschriften oder Gedichtanthologien. Die Lyrik lebt also abseits der traditionellen Buchladentische als dynamisches Netzwerk unter Künstlern, und deshalb meine ich, dass man von erfolgreichen Dichter/innen eher in dieser Hinsicht sprechen kann. Davon sehe ich in der tschechischen Lyrik eine ganze Menge. Ist jemand erfolgreich, dann ist er es nicht nur »zuhause « – so empfinde ich es jedenfalls aus tschechischer Perspektive. Die Kommunikation auf dem internationalen Feld der Lyrik ist immens, allerdings verfügt dazu niemand über genaue Zahlen. Um auf die Frage zurückzukommen: Gerade erscheinen die Übersetzungen neuer Bücher von Schlüsselfiguren der zeitgenössischen tschechischen Lyrik, wie zum Beispiel Petr Borkovec oder Petr Hruška, unter anderem ins Deutsche. Noch besser illustriert das gerade Gesagte aber die Tatsache, dass im vergangenen Jahr ein deutsch-tschechischer Versschmuggel, eine Dichter-Übersetzer-Werkstatt, stattfand, aus der in diesem Jahr auch eine Anthologie hervorgeht. Zwölf deutsche und tschechische Dichter/innen begegnen sich bei solchen Projekten im Element der Gegenwartspoesie – auf Festivals in Deutschland wie in Tschechien, auf Lesungen und Diskussionen, in gedruckter Form und via Internet.
Welche Rolle spielt Deutschland bei der Verbreitung tschechischer Literatur? Und wie schätzen Sie diesbezüglich die Bedeutung von Leipzig 2019 ein?
In gewisser Hinsicht ist die (Nicht-)Präsenz tschechischer Literatur in Deutschland enorm interessant. Auf der einen Seite gibt es eine recht große Gruppe hervorragender Übersetzer für alle Genres, auf der anderen Seite eine breite und äußerst differenzierte Verlagslandschaft, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen den Kontakt zur tschechischen Literatur verloren hat, der einst doch da war. Und genau hier sehe ich die positive Rolle des Tschechischen Literaturzentrums. In Hinblick auf die Leipziger Buchmesse hoffe ich auch auf eine gute Präsentation der Mährischen Landesbibliothek, unserer Dachinstitution, die das alles vorbereitet. Der gemeinsame Sinn von beidem ist, die deutsch-tschechische literarische Kommunikation zu revitalisieren. Diesen eigenartigen Begriff verwende ich bewusst: Er gehört eher zu Landschaftsarchitektur und Urbanismus. Die Beziehungen der deutschen und tschechischen Literatur sind historisch wie geografisch natürlich gewachsen – als Kulturlandschaft, Arboretum oder Stadtpark. Die Institutionen haben die Aufgabe, diese Anlagen zu pflegen, damit das Publikum sich dort in einer kultivierten Umgebung treffen kann.
Übrigens ist in literarischer Hinsicht Deutschland und das deutschsprachige Europa traditionell der Boden, auf dem sich die Tschechen profilieren wollen, und über den eine der Kulturhauptstraßen nach Europa und in die Welt führt. Ein Teil unserer Aktivitäten wird sich also immer ganz klar hierhin orientieren.
Gibt es Pläne / Ideen / Projekte zur Revitalisierung der deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen über Leipzig 2019 hinaus?
Mit Leipzig 2019 sind nicht nur die paar Messetage mit tschechischem Inhalt gemeint. Die sind natürlich Höhepunkt des sogenannten Tschechischen Kulturjahres, das vom Herbst 2018 bis zum Herbst 2019 dauert. In dessen Rahmen finden vor und insbesondere nach der Buchmesse Veranstaltungen mit und über Autoren sowie kleinere Ausstellungen statt, auch in anderen deutschen Städten (etwa in Berlin, München, Bremen) – auf Festivals, in Literaturhäusern und an weiteren Orten. Sinn dieses ambitioniert angelegten Programms, dessen Architekt Martin Krafl ebenfalls Leipzig 2019 entwirft, soll es sein, die deutsche und die tschechische literarische Welt engstmöglich miteinander zu verknüpfen und idealerweise die Kommunikationskanäle zu öffnen. Ich denke, dass einfach in diesem Jahr viele Verbindungen entstehen, an denen sich das tschechische Literaturzentrum etwa durch die regelmäßige Unterstützung von Autorenreisen, aber ebenso mit Übersetzerprogrammen und Stipendien beteiligen wird. Doch jetzt konzentrieren wir uns erst einmal auf das Tschechische Kulturjahr.
Das tschechische Literaturzentrum bietet im Rahmen der Vermittlung tschechischer Literatur auch Residenz-Stipendien an. Wer kann sich da angesprochen fühlen? Und was beinhaltet so ein Stipendium?
Es richtet sich allgemein an Übersetzer/innen aus dem Tschechischen, gegebenenfalls gilt es auch für bohemistische Projekte. Die Residenzen werden zweimal pro Jahr ausgeschrieben: im Frühling und im Herbst. Die Übersetzerin oder der Übersetzer kann einen zwei-, drei- oder vierwöchigen Residenz-Aufenthalt in Prag (und zwar in der Wohnung des Kultautors tschechischer Kinder- und Jugendbücher Jaroslav Foglar) oder in Brünn wahrnehmen. Wir unterstützen unsere Residenten nach Kräften – neben der ruhigen Arbeitsatmosphäre können wir für sie den Kontakt mit nahezu jedem aus der tschechischen Literaturszene herstellen, und wer sich für einen bestimmten Themenbereich interessiert, den können wir auch an die Fachwelt weitervermitteln. Gleichzeitig versuchen wir, der Übersetzerin bzw. dem Übersetzer ein öffentliches Format anzubieten – wie zum Beispiel einen Auftritt bei einer Diskussion, ein Interview für Medien, die sehr an der Vermittlung tschechischer Kultur ins Ausland interessiert sind. Das Programm ist also individuell und öffentlich. Immer aber respektieren wir die Wünsche unserer Residentin oder unseres Residenten. Zusätzlich zur kostenlosen Unterkunft bieten wir ein Stipendium in Höhe von 250 Euro pro Woche.
Auf welche besonders geglückten Projekte bei der Vermittlung tschechischer Literatur können Sie zurückblicken?
Das tschechische Literaturzentrum existiert noch keine zwei Jahre. Ich denke, die großen Projekte liegen noch vor uns, denn diese ersten „Jahresringe“ stehen in einem anderen Zeichen – nämlich dem Erstellen eines Standards. Ich bin überaus froh darüber, dass das, was fehlte, funktioniert: Die bereits erwähnten Residenz-Stipendien für Übersetzer aus dem Tschechischen, das öffentliche Programm zur Unterstützung von Lesungen tschechischer Autoren und Autorinnen im Ausland. In Tschechien haben wir für tschechische, deutsche und polnische Autoren ein ganzjähriges Residenz-Programm im barocken Kloster von Broumov eingeführt. Wir haben ein Portfolio von Informationsmaterialien in gedruckter Form wie auch online erstellt, das wir für die Verlage und Übersetzer anderer Länder gebrauchen. Für die deutschsprachigen war übrigens die Serie der Übersetzer-Verleger-Seminare in Prag, Berlin, Wien, München und Zürich ein gutes Auftaktprojekt (und alles schon in guter Zusammenarbeit mit dem Team, das eben auch Leipzig 2019 vorbereitet). Gemeinsam mit dem Netz der Tschechischen Zentren veranstalten wir in fünfzehn Ländern (inklusive Japan und Südkorea) einen Wettbewerb für den Übersetzernachwuchs, an dem jährlich über hundert Übersetzertalente teilnehmen. Diese Dinge sind nichts bahnbrechend Neues, doch sind sie nötig. Darüber hinaus haben wir uns dem europaweiten Projekt CELA zur Förderung junger literarischer Talente angeschlossen und entwickeln gerade selbst ein europäisches Projekt… es ist nicht wenig im Gange, doch, wie ich schon sagte, die wirklich besonderen Projekte liegen noch vor uns. Nun müssen die Standards funktionieren – für die Übersetzer, Verleger, Autoren, für den Nachwuchs und andere Aktanten auf dem Feld der Literatur.
Was wünschen Sie sich für die tschechische Literatur?
Offenheit. Das ist ein wichtiger Wert für Kunstwerke, aber ebenso für die Institutionen im Hintergrund und Kulturpolitik allgemein – und vor allem eine persönliche Wertorientierung.