Festrede auf das »Ostragehege«
Marcel Beyer

»Ostragehege« – die Zeitschrift zieht ihren Namen aus einem im Grunde nicht weiter bemerkenswerten Stück Schwemmland am Ufer der Elbe bei Dresden, das nur darum weltweit Bekanntheit erlangt hat, weil ein Maler es vor bald zweihundert Jahren näher in Augenschein nahm.
Ein Maler zudem, der auf seinen Gemälden Landschaft nicht nach der Natur, sondern nach Maßgabe der bildnerischen Komposition entstehen ließ.
Ein Maler, der die Schönheit nicht dort suchte, wo die Kunstliebhaber seiner Zeit sie zu finden meinten, sondern auf Brachgeländen abseits der Spazierwege, in Schlammpfützen, deren Wasseroberfläche unter einem kränklich-gelb leuchtenden Abendhimmel schimmert.

Es versteht sich von selbst, daß der Gegenstand des Gemäldes »Großes Gehege bei Dresden« von Caspar David Friedrich »in Wirklichkeit« nicht existiert.
Mit Hilfe einer mecklenburgischen Baumreihe baut der Maler um 1832 mit Ölfarbe auf Leinwand eine englische Gartenanlage nach dem Regen. Der Höhenzug im Hintergrund hat mit den Hängen in Radebeul wenig gemein.
Man könnte glauben, mit seiner späten Malerei rebellierte Friedrich gegen ein in diesen Jahren entstehendes neues Medium: die Photographie.
Und es versteht sich von selbst, daß der Maler die Welt aus einer Perspektive vor uns ausbreitet, die kein Mensch je einnehmen könnte, es sei denn, er hätte sechs Meter lange Beine.

Aber sechs Meter lange Beine kann man durchaus haben. Sechs Meter lange Beine hat man, wenn man liest. Wenn man in ein Gedicht, eine Erzählung, einen Essay eintaucht.
Mit einem guten Sprung. Mit dem Kopf voran.

Das »Gehege« im Bildtitel Caspar David Friedrichs entspricht dem englischen enclosure – der abgezirkelte Bereich. Den größten Teil des Gemäldes jedoch nimmt der Himmel ein.
In abgezirkelten Bereichen bewegt sich die Zeitschrift »Ostragehege« nicht. »Ostragehege«, das ist, vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen, ein anderes Wort für den Wunsch, für das existentielle Bedürfnis, nicht ein Leben lang im eigenen Sumpfland stecken zu bleiben, nicht ein Leben lang immer dieselben Gewißheiten herzusagen und auszutauschen, sondern selbst noch in unüberwindbarer Enge einen imaginären Weg aus dieser Enge heraus zu entwerfen, und dieser Weg heißt: Literatur.

Wäre sie einem naiven Realismus verpflichtet, und hielte sie es etwa für die Aufgabe von Kunst, Wirklichkeit widerzuspiegeln, dann würde der Name dieser Zeitschrift nicht »Ostragehege« lauten, dann könnte sie ebensogut »Unsere schöne, nach historischen Gemälden naturgetreu errichtete, nigelnagelneue Dresdner Altstadt« heißen.
Das »Ostragehege« schwebt sechs Meter über dem Boden – den es genauestens in den Blick zu nehmen gilt.

Nichts weiter als ein Zufall ist es natürlich, daß einer der frühen, glühenden Bewunderer der Malerei Caspar David Friedrichs Schriftsteller war.
Ein Zufall zudem, daß er, Heinrich von Kleist, eine Literaturzeitschrift herausgab.
Nichts weiter als ein Zufall auch, daß er dies, gemeinsam mit Adam Heinrich Müller, in Dresden tat.

Somit waren die Dresdner die ersten, die 1808 in der Zeitschrift »Phöbus« Meisterwerke wie Kleists »Michael Kohlhaas«, »Die Marquise von O …« sowie ein »Organisches Fragment aus dem Trauerspiel: Penthesilea« und Abschnitte aus »Der zerbrochne Krug« zu lesen bekamen.
Gedichte von Novalis gab es gewissermaßen als Gratisdreingabe noch dazu.
Glückliches Dresden – hier ergab sich die einmalige historische Gelegenheit, Kleists verwegene, von ungeheuerer Energie getragene Sätze dazu zu nutzen, den eigenen geistigen wie den sprachlichen Horizont ein wenig weiter zu spannen.

Allerdings legt die Schätzung, vom »Phöbus« seien damals höchstens 150 Exemplare in Umlauf gewesen, den Verdacht nahe, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts könnte in dieser Stadt die im Rückblick geradezu schockierende Ansicht vorgeherrscht haben, man könne in der feinen Gesellschaft durchaus ganz gut als Kulturbürger durchgehen, auch ohne sich je der schönen Literatur zu widmen.

Wenn eine Literaturzeitschrift nicht eine in sich geschlossene regionale Szene abbildet, einer Gruppe als Sprachrohr dient, die sich über einen gemeinsamen ästhetischen oder gesellschaftspolitischen Ansatz definiert, wenn eine Literaturzeitschrift auch kein bloßes Verlagsschaufenster darstellt, dann entwickelt sie, nahezu organisch, einen utopischen Zug.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts äußert sich dieser Zug, sowohl in Ost- wie in Westdeutschland, vor allem darin, daß man deutschsprachige Literatur in ein Verhältnis zu nicht-deutschsprachiger Literatur stellt. Mag es auf dieser Welt auch rund sechshundert Sprachen geben, mögen auch unzählige kulturhistorische Linien im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Entstehen
von Nationalliteraturen geführt haben – eine Literaturzeitschrift erlaubt es sich, Literatur als Weltliteratur, als weltumspannendes, zeitübergreifendes Phänomen in einer Sphäre jenseits bodennaher politischer Zusammenhänge anzusiedeln.

Schon die bis an den Beginn der Schriftkultur zurückreichenden Traditionslinien der Literatur, ihre Herkunft aus Zauberspruch und Verzeichnis, aus Anrufung und Zeugnis, verbieten es, den Blick entlang geltender Grenzen auszurichten, sei es im Kalten Krieg, sei es im neuen Nationalismus, der sich eine nie dagewesene Vergangenheit herbeisehnt.
Literatur als eine eigene Form von Sprache, als eine Weltsprache. Die Wirkmacht des Lorscher Bienensegens aus dem zehnten Jahrhundert erweist sich schließlich nicht vor den Bienenstöcken rund um die hessische Benediktinerabtei Lorsch, seine Wirkmacht entfaltet er, wenn er den Bienen Vergils zugeflüstert wird.
Alles andere wäre blanker Unsinn. Eine Welt ohne zeit- und weltumspannende Wünsche wäre blanker Unsinn.
Daß die Erfüllung dieser Wünsche realistisch betrachtet außer Reichweite liegen mag, darf die Begeisterung nicht dämpfen.
Literatur macht Dinge möglich. Eine Literaturzeitschrift macht es möglich, unterschiedliche Entwürfe einer weltumspannenden Sprache nebeneinanderzustellen, Nachbarschaften zu entwerfen.

Als ich im Sommer 1996 von Köln nach Dresden zog, schwebte mir für den hiesigen Kulturraum eine Zukunft vor, die in der Gegend, aus der ich kam, in den zurückliegenden Jahren geglückt war: eine Sprach-und Landesgrenzen überwindende, ja, solche Grenzen auf fröhliche Weise ignorierende Euregio im Dreieck zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland.
So, dachte ich, wird es auch hier binnen weniger Jahre aussehen, und ich möchte Zeuge dieser Verwandlung sein. Tatsächlich war ich überzeugt, innerhalb von drei Jahrzehnten nach Ende des Kalten Krieges würde im Dreieck zwischen Prag, Breslau und Dresden ein pulsierendes, von mir aus auch impulsives Gemenge von Sprachen, Mentalitäten, historischen Herkünften und
einem von allen getragenen Blick in eine gemeinsame Zukunft entstehen.
Irgendwann, da war ich mir sicher, wird man hier genug davon haben, ständig in Richtung Westdeutschland zu schielen, oder nach Berlin, oder, wie es neuerdings wieder Mode wird, nach Moskau. Eine Utopie, gewiß.

Doch etwas von dieser Utopie sehe ich auch im »Ostragehege« aufschimmern. Eine Spur, ein Gewirr von Spuren, die einander kreuzen, als schwarze Schrift auf den weißen Seiten.
Liest man im »Ostragehege«, glaubt man manchmal, nicht die Elbe, sondern die Donau würde durch Dresden fließen. Eine Donau, die zudem auch noch Warschau und Paris und Prag und Sankt Petersburg miteinander verbindet.
Denkt man an Caspar David Friedrichs Kunst, landschaftliche Momente aus allen Himmelsrichtungen auf einem Gemälde zu vereinen, erscheint diese Vorstellung gar nicht so abwegig.

Und die bis ins Feinste verästelten Gewässerlinien des »Ostrageheges« verzweigen sich bis in die eigene, halbwegs in Regalen untergebrachte, leidlich sortierte Bibliothek hinein.
Wenn Yves Bonnefoy in einer Ausgabe die Verdüsterung Paul Celans im Zuge der Plagiatsaffäre um seine Übersetzungen von Gedichten Ivan Golls aus der Perspektive eines zugeneigten Freundes beleuchtet, gehört dieses Heft in das Regal mit Werkausgaben und Einzelbänden von Paul Celan sowie der Sekundärliteratur zu seinem Werk.
Mit sechs Meter langen Beinen, oder: sechs Meter über dem sumpfigen Elbufer schwebend, gehe ich in die Lektüre.
Wenn meine Erstbegegnung mit dem Werk der nun schon seit vielen Jahren wieder aus dem Blick deutschsprachiger Leser verschwundenen Danziger Schriftsteller Stefan Chwin und Paweł Huelle im »Ostragehege« erfolgte, ebenso wie meine Erstbegegnung mit Andrzej Stasiuk, der die Weiten Mitteleuropas durchstreift, dann führte diese Begegnung bald zu Anlagerungen im Regalfach, das um Bücher der drei so unterschiedlichen Schriftsteller wuchs.
Ergänzt wurden sie auf der einen Seite um Klassiker wie das »Tagebuch« von Witold Gombrowicz, auf der anderen Seite um Entdeckungen wie das erzählerische Werk von Zygmunt Haupt.
Fünf völlig verschiedene Umgangsweisen mit Sprache. Fünf Perspektiven auf das 20. Jahrhundert. Fünf Kontinente auf kleinem Raum.

Mittendrin, als geheimes Zentrum, Tadeusz Borowskis Erzählungen »Bei uns in Auschwitz«. Als Erinnerung nicht nur daran, zu welcher Bestialität Menschen, insbesondere deutsche Muttersprachler, im 20. Jahrhundert fähig waren, sondern eine Erinnerung auch daran, wie Axel Helbig mir dieses Buch vor vielen Jahren geschenkt hat.
Als ich »Bei uns in Auschwitz« das erste Mal aufschlug, stieß ich unmittelbar auf einen ungeheuerlichen Satz unter ungeheuerlichen Sätzen:
»Bis dahin wird man die Gasöfen verbessert haben, sie werden sparsamer im Verbrauch sein und besser getarnt, werden so sein wie die in Dresden, von denen man sich heute schon Legenden erzählt.«

1996 zog ich in diese Stadt. Die Zeitschrift »Ostragehege« gab es seit zwei Jahren, und zwei Jahre später erschien dort das erste Mal ein Beitrag von mir. War ich tatsächlich der erste »geborene Westdeutsche« unter den Autorinnen und Autoren? Ich weiß es heute nicht mehr.
Aber ich meine mich zu erinnern, daß ich bald nach meiner Ankunft im »Ostragehege« die Namen Elke Erb und Róža Domašcyna las, zwei Autorinnen, denen ich seit Anfang der neunziger Jahre in Berlin, in Köln, in Wiepersdorf begegnet war.
Zwei, die bis heute zu den Beiträgerinnen gehören. Zwei, von denen sich lernen ließ, über eine mögliche Literatur in und nach dem Ende der DDR.

»Ostragehege« – so lautet der Name eines Landes, das um Sprach- wie Kulturgrenzen weiß, dieses Wissen jedoch nicht zum Anlaß nimmt, Abgrenzungen zu markieren, sondern als Werkzeug zum Erspüren von Gemeinsamkeiten begreift, zur Rekonstruktion historischer Spuren, überwachsener Pfade, die bis heute von der einen Literaturgegend in die andere führen.
Ein Land, durchzogen von einem Strom, der sich in Nebenarme und Rinnsale verlieren darf, weil überall dort, dem Blick des Sonntagsspaziergängers verborgen, womöglich die interessantesten Funde zu machen sind.
Im Land namens »Ostragehege« sind Übersetzerinnen und Übersetzer als Spurensucher, als Spurenaufdecker tätig. Sie weisen den Weg zu den Inseln im Schwemmland, unter dem Abendhimmel wie unter dem Morgenhimmel, da sich das Licht auf der Wasseroberfläche spiegelt, als würde die Welt in jeder Minute von neuem entstehen.

Das Land namens »Ostragehege« existiert nur in der Sprache, nur auf dem Papier, nur im Kopf eines jeden, der liest, mit sechs Meter langen Beinen.
Und dennoch bleibt die Utopie, dieses imaginäre Ostragehege könnte eines Tages auch jenseits der Literatur Wirklichkeit werden