Bergisch
teils farblos

von Zsuzsanna Gahse

It ain’t necessarily so.

1

Auf dem Weg von Venedig nach München sah ich vom Beifahrersitz die sturzbereiten Felswände, vor allem sah ich die Sturzfähigkeit, den Sturz als Feindlichkeit. Kilometer für Kilometer nackte, raue, unpersönliche Steinwände.
Diese Berge hatten nie vor, als Naturschönheiten anzutreten, obwohl man gern schön von ihnen spricht. Man sagt auch, dass sie einen rufen, die Berge, die rufen dich. Dabei sind sie einfach auf das Stürzen aus, und das ist keine Unterstellung, weil man in den Alpen im Handumdrehen verschüttet werden kann, durch Geröll, Steinschlag, durch Lawinen und schwere Schlammassen.

Die Berge gehen langsam in die Knie, selbst die Dreitausender und Zweitausender sinken nieder, gehen in die Knie, und bei diesem Vorgang schlagen sie zu. Das Knistern und Knirschen in den Felshängen wird in einem fahrenden Auto kaum jemand wahrnehmen, nehme ich an, aber plötzlich trifft ein stürzendes Steingebilde das Autodach, unter dem ich nach einem kurzen, heftigen Schrecken plattgedrückt liege.

So eine Fahrt durch die Alpen ist nicht jedermanns Sache.

Ich saß im Wagen eines Stipendiaten aus Rumänien, der, wie auch ich, eine kurze Zeit in Venedig verbracht hatte, und weil er nur gebrochen deutsch sprach, schwiegen wir meist, fuhren still durch das morsche Gebirge. Nur Autos und Alpen, sagte er zwischendurch, und wir lachten, wobei ich nicht aufzählen werde, aus wie vielen unterschiedlichen Gründen jemand lachen mag.

2

Der Julier, der Pass unterhalb des klobigen Piz Julier, ist eine ideale Bergüberquerung, die ich mir überall in den Alpen und im Hochgebirge weltweit wünschen würde. Schon bei der ersten Anreise von Norden her mochte ich diesen gediegenen Pass. Eine bequeme Straße windet sich von Westen in Richtung Osten zum breiten Sattel hinauf, und oben angekommen war ich erleichtert, gleich bei der ersten Anfahrt war ich verwundert und erleichtert, einen derart großzügigen, offenen Ort anzutreffen. Auch der Weg ins Engadin hinab, weiter in Richtung Osten, hat schöne Momente. Somit ist es durchaus möglich, ohne Grauen und Bedrückungen Berge zu überwinden, dachte ich. Die geologische Geschichte schiebe ich zur Seite (Granit, wirr gestapelt, in die Höhe ragende, instabile Granitblöcke), und da mir bekannt war, dass diesen Bergübergang schon die Römer zu schätzen wussten, fühlte ich mich in der kultivierten Landschaft mit der Bezeichnung Julier vom hohen römischen Geschlecht der Julier unterstützt. Julius Cäsar und die alt entdeckte Gegend gaben mir eine Bergsicherheit.

Nur haben Julius Caesar oder Romeo und Julia mit dem Julier nichts zu tun. Trotzdem ist die gefahrlose Steigung auf dem Weg hinauf nobel wie auch die Aussicht auf der Passhöhe. Dort oben gibt es eine Gelassenheit, zumindest an klaren Tagen ohne Schnee und Regen. Und ohne den unwirtlichen Blick zum Piz hinauf. Gut ist zudem, wenn sich keine Autofahrer nähern, die in den Kurven der Passstraße vor allem das Tempo mögen, egal ob aufwärts oder abwärts. Diese Kraftprotze und Adrenalinsuchenden, nicht unbedingt Bergliebenden kenne ich auch vom Furkapass her, habe sie einige Male erlebt, auch im Nebel. Die Wagen hinter mir fuhren zentimeternah auf mein Heck zu, beziehungsweise auf die Person im Autoinneren, die aus ihrer Sicht offenbar nicht in die Gegend und nicht in die Landschaft gehörte, sonst wäre sie ebenso schnell gefahren wie die ihr Folgenden. Diesen fremden Fahrer (Fremdkörper) in meinem Auto wollten sie in die Luft jagen, sie, die Kurvenfahrer, Kurvenangeber, womöglich mit Alpenwurzeln, folglich Rassisten, sie wollten mich darauf hinweisen, dass es einerseits Alpenmenschen gibt, andererseits Fremde mit welcher Hautfarbe auch immer. Solche Vorstellungen hatten sie im hintersten Hinterkopf. Damals, heute vielleicht nicht mehr. Und ich hatte auch meine Vorstellungen, während ich weiterfuhr. Aber womöglich waren unter den Drängenden auch Holländer. Viele in Holland haben ihr flaches Land satt, und ausgehungert stürzen sie sich auf alles Unwirtliche, so auch auf die felsigen Alpen, wo sie beweisen, dass sie mit den Alpentücken und den Passstraßen zurechtkommen und daher die Zaghafteren wegschieben, wegstieben. Beinahe docken sie mitten in der Serpentine an, puffen den Vordermann von der Route weg, oder sie werfen eine Brandbombe in mein Auto und überholen mich. Die Frage ist, wer besser rast, wer mutiger und heimischer ist, vor allem, wer heimischer ist. Und eine solche Frage ist unheimlich.

3

Am Furkapass war ich eine Weile zu Fuß unterwegs, und mein Hund lief mir voraus. Er lief nicht weg, war nur schneller als ich und blieb dann neben einem Pfad am unbefestigten Rand stehen. Ich meinte schon, er würde vom Steilhang in die Tiefe springen, aber mit seinem aufgeweckten Blick betrachtete er die Felswand in aller Ruhe.

4

Wo ist der Witz in den Bergen? Fehlanzeige.

5

Schön sind die Wörter Gneis, Flysch, Quarzit, Granit oder Schiefer. Hinzu kommen Hinweise wie Kupfervorkommen, Salzlager, eventuell auch Goldvorkommen, sicher erwähnt werden Kristalle und Halbedelsteine. Diese Begriffe beschreiben das sogenannt tote Material der Bergregionen, und manche Stichwörter wecken bei mir Gelüste, die auch Begehrlichkeiten genannt werden könnten. Begehrlichkeit wirkt zwar antik, aber so lange das Wort nicht zu oft gebraucht wird, gefällt es mir, weil es die Lust darstellt, die bis in den Magen hinab reicht. Oft liegen die unterschiedlichsten Steinarten mit ihren schönen Bezeichnungen dicht neben- und untereinander. Sie befinden sich in einer Gesteinsgesellschaft. Dabei müssen sie sich gegenseitig aushalten (erdulden), was nicht immer klappt und zu Verrutschungen und Steinschlag führen kann.

Bei dem toten Gestein, bei dem betont wird, dass es sich um unbelebtes Material handelt, kommt überraschend Leben ins Spiel, nicht nur im Kalkgestein, in den Kalkalpen, in den Ablagerungen von Lebewesen, wobei dort nicht von lebendigen Lebewesen die Rede ist, aber immerhin bergen die Ablagerungen früheres Leben.

Besonders gefällt mir an den Bergen, dass sie bergen.

Aber unabhängig vom früheren Leben im Kalkgestein lauern unter den Gletschern eingefrorene Lebewesen, die durch den Rückzug der Eismassen auftauen, vorbrechen, aufpoppen. Die Bakterien. Die uralten schlafenden, bisher unbekannten Arten von Bakterien erwachen. Das wird auch in Sibirien beobachtet, wo der Permafrost ebenfalls nachgibt.

Erst seit kurzem wird von fremdartigen Bakterien berichtet, die bisher ruhig unter dem Eismantel quasi leblos eingelagert waren. Jetzt poppen und ploppen sie auf, und das neue Wort passt zu ihnen. Vielleicht handelt es sich um harmlose Clowns, denen ausgerechnet das Poppen behagt.