Das neue OSTRAGEHEGE ist – auch wenn »Altmeister« der deutschen Poesie wie Elke Erb und Thomas Böhme das Heft eröffnen – vor allem ein Heft der Entdeckungen.
Dank Andreas Tretner – kurz vor der Corona-Stagnation noch als Übersetzer für den Leipziger Buchpreis nominiert – können die Leser Bekanntschaft mit einem modernen Klassiker schließen, von dem bis dato in Deutschland kaum etwas zu lesen war. Alexander Wutimski »war ein poète maudit der klassischen Art, für Bulgarien ganz einzigartig: Frühvollendeter Kopf einer jungen Sofioter Dichterbohème, trunken von Inspiration und billigem Wein, berauscht und gepeinigt von Schönheit und ›falscher‹ Liebe […] Formgeworden in einer auffallend fluiden Ästhetik – Rimbaud-Vian-Cocteau-Assonanzen im bulgarischen cross-rhythm, aber genauso das Unsagbare im klassisch-romantischen Vers […] Wutimskis Lyrik ist intuitiv, das Emotionale dominiert das Intellektuelle, die existentielle Botschaft zieht enge Kreise, insistiert bis ins Obsessive« (Andreas Tretner).
Eine weitere Entdeckung ist die von Paul-Henri Campbell in der Lagebesprechung vorgestellte, aus Russland eingewanderte Dichterin Julia Grinberg. »Je mehr sie sich die neue Sprache aneignet, mit ihr ringt, sie meistert, desto mehr bringt sie zunächst ihre mitgebrachte Sprache, also das Russische, in sich immer mehr zum Schweigen. […] Später wirbeln, tanzen und streiten die Sprachen in ihr, exophonisch, ohne nach Lösung und Besänftigung zu suchen, stattdessen halten sie die Saiten dieser Harfe gespannt. Es ist ja die Dummheit der Reinheitsphantasten, die in perverser Dialektik immer auf Aufhebung und Synthese hoffen. Vielmehr heben sich die Sprachen nicht gegenseitig auf, ihr Widerstreit macht Julia Grinberg besonders produktiv« (Paul-Henri Campbell).
Frische Texte gibt es auch aus Tschechien von Sylva Fischerová und Jan Škrob, übersetzt von Daniela Pusch und Martina Lisa. Marcus Klugmann, Elena Winter und Marjan Asgari setzen mit ihrer inspirierenden und neue Wege suchenden Prosa Zeichen; der in Wien lebende serbische Dichter Boško Tomašević (übersetzt von Helmut Weinberger) zeigt sich einmal mehr als Dichter-Philosoph; darüber hinaus begegnen die Leser neun weiteren Dichterinnen und Dichtern, die hier teilweise ihre literarischen Debüts geben.
Teresa Ende stellt die Malerin Nicole Kegel vor, die bei Arno Rink und Neo Rauch studiert hat. »Die seit 2010/12 entstandenen Arbeiten der Leipziger Künstlerin feiern die Wiederentdeckung der Figürlichkeit mit großer malerischer Finesse, doch wird bei der Betrachtung ihrer Bilder schnell klar, dass hier nichts so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn jedes ihrer hintergründigen Gemälde ist Ausschnitt, Spur und Konstruktion zugleich« (Teresa Ende).