Ein großzügiges Atelier in einem Gewerbezentrum in der Naumburger Straße in Leipzig-Plagwitz: Professor Sighard Gille öffnet in Malerkleidung die Tür, ohne Zeremonien, offen, wach, herzlich. — Sighard Gille, geboren 1941 in Eilenburg/Sachsen, erlangte allgemeine Bekanntheit durch sein Deckengemälde »Gesang vom Leben« (1981) im Neuen Gewandhaus Leipzig. Ein Blick in sein Atelier lässt aber erkennen, dass Gille nach der bereits vierzig Jahre zurückliegenden Arbeit immer neue künstlerische Wege gegangen ist. So finden sich neben den zum Teil überlebensgroßen Malereien auch grafische und plastische Arbeiten im Plagwitzer Atelier. […]
Herr Gille, ich sehe, Sie haben ein neues, nach meinem Dafürhalten recht dystopisch wirkendes Bild gemalt.
Ja, das Diptychon »Der Fund« ist während des Lockdowns (März /April 2020) entstanden. Der Ausgangspunkt für das Diptychon war der Ab- und Aufbau meiner Plastik »Don Roland« (2016) aus farbigem Eloxal. Die Fotos davon habe ich zunächst gebraucht für das Bild »Demontage« (2019). Ich fand es spannend, wie die Arbeiter die wacklige Figur gestützt haben, und dass so viele Personen am Abbau beteiligt waren. Das war die Aufregung. Solche Figuren zu sehen, in ihren Bewegungen. Über die Arbeit an der »Demontage« entstanden allmählich die Ideen für »Der Fund«. Die Metallflächen des »Don Roland« sind auf dem »Demontage«-Gemälde bereits mit blauen Adern durchzogen und deuten auf etwas Lebendiges hin. Daraus ergab sich die Idee, dass die Arbeiter etwas ganz Fremdes halten und untersuchen könnten, was dann dieses merkwürdige Wesen im Bild »Der Fund« ist. »Der Fund« hat etwas mit einer typisch menschlichen Eigenschaft zu tun: dass die Menschen immer alles aufmachen und untersuchen müssen, dass sie stets überlegen: »Welchen Nutzen hat das?«, »Wie kann man die Erkenntnis in Erfolge oder in bare Münze umsetzen?« Die Gier nach Gewinn lässt sie auch unbekannte Tiere oder Wesen auseinandernehmen – und zerstören. Der eine setzt eine Spritze, entnimmt Blut o.ä. (Figur links). Ein optischer Reiz des Bildes sind auch die blauen Handschuhe der Ärzte und des medizinischen Personals, die man derzeit überall sieht.
Wenn ich das Bild betrachte, muss ich auch an die aktuelle Corona-Epidemie denken, steht doch ein Arzt im Hintergrund … und die Corona-Viren selbst kann ich auch entdecken.
Ja, es stimmt schon. »Der Fund« ist, wie bereits erwähnt, während des Lockdowns entstanden. Das war für mich eine beunruhigende und belastende Situation. […]
Sie blicken auf ein langes Leben für die Malerei zurück: Studium und Lehrtätigkeit an der HGB, das gigantische Deckengemälde »Der Gesang vom Leben« im Leipziger Gewandhaus – mit 714 qm, das größte in Europa –, Professor für Malerei an der HGB. Nach Ihrer Emeritierung im Jahr 2006 führen Sie noch immer ein aktives Malerleben. Ich halte hier Ihren Werkkatalog von 2015 mit über 1000 Gemälden in den Händen – ich betone – allein die Malerei! Sie arbeiten auch in den Bereichen Grafik, Plastik und Fotografie. Wie blicken Sie auf Ihr künstlerisches Schaffen zurück – welche Aspekte würden Sie herausheben wollen? Haben Sie überhaupt Interesse an so einer Rückschau?
Nein, das Spannende und Schönste ist das Schaffen, das Entstehen. Ich bin so veranlagt, dass ich nicht immer dasselbe wiederholen kann. Deshalb sind meine Arbeiten auch so unterschiedlich. Aber wenn ich zurückschaue, dann erinnere ich mich an mein zweites Studienjahr 1967, da habe ich aus Gips ein »Kuttenhuhn« gemacht. Ina, meine Frau, besitzt dieses Huhn. Und jetzt erst kam ich auf die Idee, das »Kuttenhuhn« in Bronze gießen zu lassen. Der Hintergrund ist folgender: Ich besaß in den 1960er Jahren eine sogenannte »Vietnam-Kutte«, was verpönt war. Wenn ich heute darüber nachdenke, war das auch idiotisch. Wir haben uns solche Kutten, wie sie die amerikanischen GIs im Vietnamkrieg getragen haben, aus dem Westen schicken lassen (am »besten« waren solche mit Durchschuss). Ich war damals 26 Jahre alt und habe diese hirnverbrannte Mode mitgemacht. Es gibt aus dieser Zeit auch ein Selbstporträt, das mich in dieser Kutte zeigt (»Selbst in Kapuze«, 1966). Die Kutte steht letztlich für ein Sich-Einschließen, Sich-Abschließen nach außen, die Konzentration auf sich selbst, was für mich für die künstlerische Arbeit notwendig ist. Ich gehe nicht gerne auf öffentliche Veranstaltungen, rede nicht gerne öffentlich – ich rede überhaupt nicht gerne. Ich möchte mich auf mich selbst voll einlassen und mich konzentrieren auf meine Arbeit. Deshalb habe ich auch begonnen zu malen. Mir war bereits früh klar, dass ich mich über das Zeichnen und Malen – und nicht über das Reden – äußern möchte. Und aus dieser Konzentration auf mich selbst ergibt sich auch die Vielfalt meiner Arbeiten. Indem ich mich auf mich selbst einlasse, halte ich mich auch offen für den Werkprozess, der mich dann auf ganz neue künstlerische Wege leitet. Das führt mitunter dazu, dass von Galeristen die Diversität meiner Arbeiten auch als Problem empfunden wird.
Sie gelten als ein Wegbereiter der so erfolgreichen »Neuen Leipziger Schule«. Aus Ihrer Malklasse gehen u.a. Matthias Weischer, Tobias Lehner, Sebastian Gögel, Paule Hammer, Cornelia Renz, Jessica Sommer, Kristina Schuldt und Jana Schwarz hervor. Wer hat Sie in Ihrem Leben künstlerisch geprägt?
Max Beckmann – und Bernhard Heisig, mein Lehrer an der HGB Leipzig, bei dem ich auch später Meisterschüler an der Akademie der Künste in Berlin war. Beckmann! Der hat mal gesagt, »Ich würde mich durch sämtliche Kloaken der Welt, durch sämtliche Erniedrigungen und Schändungen hindurchwinden, um zu malen«. Ja, das war für mich immer wichtig, dass die Kunst im Leben das Einzige ist. Man kann das Malen nicht einfach so als Nebengeschäft behandeln. Quappi, die Ehefrau
Beckmanns, hat ihren Mann beim Malen unterstützt, bedingungslos. Bernhard Heisig hat uns Studenten und Studentinnen gefragt, was wir tun würden, wenn wir nicht malen dürften. Diese Frage habe ich während meiner Tätigkeit als Professor dann weitergegeben. Was würdest Du tun, wenn Du nicht malen dürftest? Bernhard Heisig hat darauf geantwortet, er würde aus dem Fenster springen. Und ich: Ich würde krank werden. Ich lebe in der Malerei. Ich brauche das. Natürlich, wenn es
um Liebe, Familie und Kinder geht, würden manche abtrünnig werden. […]
[Auszug]