Die Gedichte von Franz Hodjak, mit denen das neue OSTRAGEHEGE eröffnet wird, leben von metaphorischer Doppeldeutigkeit, Wortspiel, Allegorie und Parabel – Stilmitteln, die in der Diktatur zum Rüstzeug der Autoren geworden sind. Dass er diese Stilmittel in seine Sichtweisen auf die heutige Gesellschaft einbezieht, macht seine Texte besonders.
Besondere Sichtweisen zeichnen auch die beiden Interviews in diesem Heft aus. Die Malerin und Grafikerin Dagmar Ranft-Schinke war und ist eine unangepasste Künstlerin – als Mitglied der Künstlergruppe »Clara Mosch« verweigerte sie sich der Kulturdoktrin in der DDR. Heute sagt sie: »In jeder Gesellschaft sollten Künstler oppositionelle Gedanken in sich tragen, denn wenn man sich total integriert, geht auch Sinnhaftigkeit verloren. Kunst muss auch solche Menschen anregen oder provozieren, die sich nicht oft mit Kunst beschäftigen. Künstler spüren manchmal Entwicklungen im Voraus und haben die Möglichkeit, dies in ihrem Medium zu artikulieren. Sie sollten daher als Sensoren einer Gesellschaft wahrgenommen werden.«
Lukas Rietzschel, einer der interessantesten jungen Romanciers aus dem Osten Deutschlands, sagt im Gespräch mit Karin Großmann: »Mein Thema ist gar nicht nur das Ostdeutsche. Mich interessiert der Konflikt zwischen Stadt und Land. Warum fühlen sich Menschen abgehängt und an den Rand gedrängt, wie gehen sie damit um? Das kann man in der ostdeutschen Provinz – leider – sehr gut beobachten.«
Die Redaktion dankt Paul-Henri Campbell, der über zwei Jahre als Gastredakteur die Rubrik »Lagebesprechung« betreut hat, in der junge Lyriker und Lyrikerinnen näher vorgestellt werden. Neue Gastredakteurin in dieser Rubrik ist ab dieser Ausgabe Olga Martynova. Über die von ihr vorgestellte, in Mazedonien geborene Dichterin Verica Tričković sagt sie: »Auch wenn deutsche Autoren mit einer anderen Muttersprache heute alles andere als eine Seltenheit sind, darf man Verica Tričković eine Ausnahmeerscheinung nennen. […] Heute ist sie eine deutsche Lyrikerin, deren Texte sich mit Bravour gegen Versuche wehren, sie in die Rubrik Migrantenliteratur zu schieben. Natürlich spielen persönliche Hintergründe im Werden eines Künstlers eine Rolle, aber im Ergebnis werden sie zu unsichtbaren unterirdischen Strömen, die den sichtbaren Hauptstrom speisen.«
Auf den Begriff »Migrantenliteratur« nehmen auch die drei Dankesreden für die Ehrengabe des Chamisso-Preis Hellerau 2020/2021 Bezug – und verweisen auf den interkulturellen Gewinn für die deutsche Literatur.
Neben der Lyrik von Andreas Reimann, Sebastian Weirauch, oder des jungen isländischen Dichters Dagur Hjartarson, sind es in dieser Ausgabe die sprachspielerisch und erzähltechnisch virtuosen Prosastücke von Ulrich van Loyen und Philipp Kampa, die die Redaktion beeindruckt haben.