Traumsprachenarbeit

Patrick Wilden im Gespräch mit Stefan Wieczorek, Übersetzer, Herausgeber und Vermittler für niederländischsprachige Literatur

Mit »Polderpoesie«, der Anthologie junger Lyrik aus dem niederländischen Sprachraum, die er gemeinsam mit Christoph Wenzel herausgab, und dem »Horen«-Band »Bojen & Leuchtfeuer« (beide 2016) hat Stefan Wieczorek wegweisende Sammlungen der Gegenwarts-Poesie unserer westlichen Nachbarn initiiert. Seinem Engagement ist es auch zu verdanken, dass das unter anderem in Amsterdam und Antwerpen angesiedelte Projekt »Das einsame Begräbnis« im deutschen Sprachraum bekannt wurde. Bei diesem sozial-literarischen Projekt verabschieden Dichter und Dichterinnen vereinsamt Verstorbene während der Beerdigung mit einem Gedicht.

Lieber Stefan, Du hast schon früher für »Ostragehege« Dossiers mit Texten aus Flandern und den Niederlanden zusammengestellt und übersetzt. Wie findest Du eigentlich Deine Autorinnen und Autoren und nach welchen Kriterien stellst Du so ein Dossier zusammen?
Tatsächlich ist mir eine gewisse Dramaturgie in den Dossiers wichtig. Beispielsweise hier der Auftakt mit zwei erzählenden Texten von Rachida Lamrabet und Asis Aynan. Beide Beiträge führen nach Marokko und reflektieren unter anderem ausgehend von der Frage nach biografischen Herkünften Sprachverwurzelung und -entwurzelung. Was dann wieder in ganz anderen Beiträgen, etwa bei Charlotte Van den Broeck, ebenfalls aufblitzt, als eines von mehreren Leitmotiven des Dossiers. Im Idealfall setzen sich die Texte gegenseitig in Szene, ermöglicht der arrangierte Kontext unerwartete Perspektiven. Gerade bei Lyrik gebe ich häufig auch einen Einblick in meine aktuellen, größeren Projekte.

Du bist von Hause aus Literaturwissenschaftler, hast unter anderem in Utrecht studiert und in Aachen im Dreiländereck, wo Du heute lebst, promoviert. Inzwischen bist Du ein gefragter und erfahrener Übersetzer aus dem Niederländischen. War Übersetzen schon immer Dein Traum?
Ich lebe ein Patchwork aus literarischer Übersetzung, Literaturwissenschaft beziehungsweise Essayistik und Herausgeberschaft. Das ist mein spezifischer Methodenbaukasten, um mich Literatur zu nähern. Es gibt viele Dinge die ich sehr daran schätze, sogar liebe. Dazu gehört übrigens auch, dass ich in der Regel zwei Monate im Jahr in Amsterdam oder Antwerpen leben darf.
Ob es aber ein Traum ist, wie Du fragst? Dazu muss ich ein wenig um die Ecke denken: Freud rückt das literarische Schreiben ja in die Nähe des Träumens, genauer gesagt des Tagträumens. Voraussetzung für den Traum ist aus der Perspektive der Psychoanalyse aber Traumarbeit, also die Umwandlung von Tagesresten, Reizen – und meines Erachtens von Sprachmaterial – zum Trauminhalt. Folgerichtig würden sich Literaturwissenschaftler und Übersetzer gleichermaßen damit beschäftigen, dieser Traumarbeit auf die Spur zu kommen, um die Entstehung von Texten zu verstehen und auch, im Falle des Übersetzenden, um diese Transformation sprachlich nachzuvollziehen. Nun denn, in diesem Sinne: mehr Traumarbeit als Traum. Der Text von Asis Aynan in diesem Dossier heißt »Traumsprache«, hier schließt sich ein Kreis.

Mit den Niederlanden und der nordbelgischen Region Flandern war im Jahr 2016 erstmals der gesamte niederländische Sprachraum Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse. Im selben Jahr hast Du mit Christoph Wenzel die erfolgreiche Anthologie »Polderpoesie« mit junger Lyrik aus Flandern und den Niederlanden herausgegeben …
Das war für uns als Herausgeber eine wahre Entdeckungstour, da wir keine Anthologie aus Anthologien produzieren wollten, sondern uns durch die aktuelle Lyrik Flanderns und der Niederlande gelesen haben. Und es war sehr beglückend, da wir auf einen ungeheuren poetischen Reichtum und eine große Vielstimmigkeit stießen, zudem auf eine Poesie, die sehr viel mehr im öffentlichen Raum stattfindet, als wir es aus der deutschsprachigen Lyrikszene kannten. Schließlich haben wir mit einem Team aus fünf Übersetzerinnen und Übersetzern 21 Autorinnen und Autoren vorgestellt, von denen mittlerweile viele hierzulande auf Festivals zu Gast waren, von einer ganzen Anzahl sind mittlerweile Gedichtbände auf Deutsch erschienen. Im Fußball würde man wahrscheinlich von einer goldenen Generation sprechen. Zu der übrigens auch Radna Fabias, Charlotte Van den Broeck und Marieke Lucas Rijneveld gehören, die allesamt noch gar nicht debütiert hatten, als wir die »Polderpoesie« zusammengestellt haben.

In einem Interview mit der belgischen »Poëziekrant« sprichst Du davon, dass ein Übersetzer zugleich »Gastgeber für das Gedicht in seiner eigenen Sprache« und »Gast des Gedichts in dessen eigener Sprache« sein müsse. Ein schönes, aber widersprüchliches Bild …
Ich bin ein Freund von Denkfiguren, angesiedelt zwischen Metaphern und Begriffen. Und tatsächlich schienen mir die gängigen Bilder vom Übersetzen, etwa das des Fährmanns, nie aussagekräftig oder anregend für mein eigenes Arbeiten, insbesondere für das Übersetzen von Poesie. Daher habe ich für mich eine andere, paradoxale Denkfigur entwickelt, nämlich diejenige, beim Übersetzen gleichzeitig Gast und Gastgeber zu sein. Man ist zu Gast in einer anderen Sprache, im Gedicht eines anderen. Aber sobald man zu übersetzen beginnt, ist man zudem Gastgeber des Gedichts in der eigenen Sprache – ein paradoxales Spiel von Distanz und Nähe, Interaktion, Dialog und Rollentausch. Für den Übersetzenden wird das Spiel noch vielschichtiger, denn man ist in der eigenen Muttersprache bekanntlich nicht nur Gastgeber, sondern gleichermaßen Gast. In einem Beitrag über »Kreativität und Reflexion beim Übersetzen von Poesie« (in: »Teksten in beweging«, 2019) habe ich das etwas ausgeführt.

Hängst Du bei Deinen Übertragungen an Wortlaut, Klang, Rhythmus, oder kommt es Dir eher darauf an, semantisch, also von der Bedeutung her korrekte Entsprechungen zu finden?
Man versucht natürlich sowohl ein guter Gastgeber als auch ein guter Gast zu sein. Ich fühle mich aber eher unbehaglich bei der Frage. Vermutlich, weil sie Alternativen suggeriert, wo keine sind. Außerdem steht man mit ihr schon mit einem Fuß in einer unproduktiven Form-versus-Inhalt-Debatte. Vielleicht könnte ich von Präferenzen sprechen, von Texten, deren sprachliche Verfahren mich mehr reizen als andere – diese Präferenzen sind ja aus meinem starken Bezug zur Gegenwartslyrik ableitbar.
Eigentlich geht es aber um etwas anderes: Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt hat gefordert, Literatur im Akt der Lektüre wieder mit der sozialen und kulturellen Energie ihres Entstehungskontextes aufzuladen, jener Energie, auf der ihre Wirkung basiert. Für mich beinhaltet das auch ästhetische Energie, die Wucht oder Unwucht eines Textes. Was macht einen Text zu einem Ereignis? In der Regel ist beim Übersetzen diese Wirkungsadäquatheit eine zentrale Kategorie.

Kannst Du ein wenig erklären, was du mit »Wirkungsadäquatheit« meinst?
Maud Vanhauwaert spielt den Prozess der Lektüre in ihrem Text »Nach Snoek«, der auf Paul Snoeks berühmtes Gedicht »De zwemmer is een ruiter / Der Schwimmer ist ein Reiter« antwortet, fast schon exemplarisch durch, wenn darin über die dominierende, titelgebende Metapher sinniert wird. Diese Metapher beinhaltet ein Irritationsmoment, daher macht das Gedicht Alternativvorschläge, an was ein Schwimmer noch alles erinnern könnte – sogar viel eher erinnern könnte –, beispielswiese an einen gestikulierenden Verkehrspolizisten. Schließlich wird das Wörterbuch zu Rate gezogen, das eine Nebenbedeutung zu »ruiter« zu bieten hat, mit der die Leserin beziehungsweise der Leser in Vanhauwaerts Gedicht etwas anfangen kann; eine Bedeutung, durch die das Gedicht für diese Lektüre stimmig wird.
Auch der Übersetzer ist zunächst einmal ein Leser. Und auch mich hat das Bild des Schwimmers als Reiter in Snoeks Gedicht beschäftigt. Und natürlich habe ich ebenfalls durchgespielt, auf was der Vergleich beruhen könnte, und schließlich zum Wörterbuch gegriffen, demselben großen »Van Dale« – unserem Duden vergleichbar –, der in Vanhauwaerts Text erwähnt wird – übrigens ohne zu diesem Zeitpunkt ihr Gedicht überhaupt zu kennen.
Nun zur Wirkungsadäquatheit: Für die Übersetzung ist es wichtig, dass das Irritationsmoment der Metapher im Deutschen erhalten bleibt, dass diese weder geglättet noch präzisiert wird, sodass darauf aufbauend unterschiedliche, suchende und findende Lesarten ermöglicht werden. Es ›bleibt‹ daher beim Reiter als unvertrauter und zugleich suggestiver Metapher, auch wenn die Nebenbedeutungen im Deutschen vielleicht etwas schwächer ausgeprägt sind.
Hätten wir im Deutschen aber eine ganze Genealogie von Übersetzungen dieses Gedichts oder dieses Autors, Paul Snoek, was leider nicht der Fall ist, hätte die Entscheidung jedoch anders aussehen können. Vielleicht wäre es geradezu notwendig gewesen, einer durch die Vertrautheit schon erstarrten Metapher wieder die ursprüngliche Irritation einzuschreiben, einen neuen Zugang zu ermöglichen, wie es Vanhauwaert unternimmt, für die das Gedicht schon Schullektüre ist. Dann würde ich allerdings für noch eine andere Lesart plädieren: »ruiter« kann regional in Flandern, also in der Heimat von Paul Snoek, auch den Maikäfer meinen – »Ein Schwimmer ist ein Käfer // Schwimmen ist zügelloses Schlafen im zappelnden Wasser«.
Es geht also darum, wohlüberlegte und begründete Übersetzungsentscheidungen zu treffen. Diese sind aber relational, kontextbezogen, nicht absolut und nicht auf ewig unumstößlich. Und bislang haben wir nur ein semantisches Problem andiskutiert. Aber der Gedankengang lässt sich auf andere Aspekte übertragen: Beispielsweise waren (und sind) gereimte Strophenformen in der niederländischsprachigen Dichtung viel präsenter als bei uns. Übersetzte man diese Reime als Vollreim, würden die Gedichte im Deutschen quasi eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, unter Umständen fast schon antiquiert wirken, da wir konsequenten Endreim in der deutschsprachigen Dichtungstradition anders empfinden und einordnen. Hier empfiehlt sich dann häufig, im Sinne der kulturellen Energie des Textes oder der Wirkungsadäquatheit, eine andere Lösung, beispielsweise auf Halbreime zurückzugreifen.

Das zeigt eindrücklich, wie komplex die Übertragung von Gedichten in eine andere Sprache sein kann. Als literarischer Übersetzer beschäftigst Du Dich nicht ausschließlich mit Lyrik, sie stellt aber doch einen Schwerpunkt Deiner Arbeit dar. Kannst Du unseren Leserinnen und Lesern schildern, was es heißt, ein »Botschafter« für Dichter zu sein, wie Du es mal genannt hast?
Auch bei Romanübersetzungen bin ich häufig früh involviert, etwa als Gutachter oder weil ich einen Titel vorschlage. Bei Poesie wird man aber tatsächlich zu einer Art Botschafter für Dichterinnen und Dichter oder sogar für eine ganze Lyrikszene. Konkret bedeutet das, nicht nur Verlage, Bücher und Autoren zusammenzubringen, sondern zudem den Kontakt zu Festivals zu legen, Texte zusammenzustellen, herauszugeben und zu lektorieren, Reihen zu initiieren, Essays und Nachworte zu schreiben, Veranstaltungen zu moderieren etc. – und vor allem für eine Kontinuität des Austauschs zu sorgen. Über einige dieser Projekte, die einen lebendigen Dialog ermöglichen sollen, reden wir ja heute. Mir fallen gleich sechs Autorinnen und Autoren ein, die nach der Veröffentlichung in »Ostragehege« einen eigenen Gedichtband in deutscher Übersetzung bekamen, zuletzt übrigens Ester Naomi Perquin und Charlotte Van den Broeck. Die Übersetzungen in »Ostragehege« sind dann mitunter so etwas wie Nagelproben.
In der von Jan Wagner und Federico Italiano herausgegebenen Anthologie »Grand Tour« sind von den Fremdsprachen übrigens nur Englisch und Italienisch stärker vertreten als das Niederländische – und wir reden von einer ›kleinen‹ Sprache mit nur ca. 24 Millionen Sprechern, die aber offensichtlich zu den großen Poesiesprachen Europas gehört. Das ist vor allem ein Ausdruck der Lebendigkeit und der Qualität der Poesie aus Flandern und den Niederlanden – ein klein wenig aber auch eine Bestätigung der Botschaftertätigkeit der Kolleginnen und Kollegen und meiner eigenen.

Würdest Du sagen, dass es signifikante Unterschiede zwischen niederländischen und flämischen Autorinnen
und Autoren gibt, die ja dieselbe Literatursprache benutzen? Und falls ja, worin bestehen diese, Deiner Meinung nach?
Die flämische Anthologie »Hotel New Flandres« hat vor einigen Jahren mit der provozierenden These für Aufsehen gesorgt, die Poesie aus den Niederlanden sei für Autoren und Autorinnen aus Flandern nicht wichtiger als diejenige aus Amerika oder beispielsweise Indien. Knapp fünfzehn Jahre später kann man beobachten, wie eine neue Generation ähnliche Themen –  beispielsweise Diversität, (Post-)Kolonialismus, Geschlechterrollen – in ihren Texten verhandelt. Autorinnen wie Radna Fabias, Marjolijn van Heemstra, Charlotte Van den Broeck oder Maud Vanhauwaert – egal ob sie nun aus den Niederlanden oder Flandern stammen – verstehen ihr Arbeiten gleichermaßen als Bühnenkunst beziehungsweise Kunst im öffentlichen Raum, zum Teil kommen sie aus der Spoken-Word-Bewegung.
Allerdings darf man die unterschiedlichen Traditionslinien nicht vergessen. So ist Paul Snoek neben Hugo Claus und Paul van Ostaijen für viele flämische Lyriker und Lyrikerinnen eine der wichtigsten Bezugsgrößen; in den Niederlanden dürfte er allenfalls dem Namen nach bekannt sein. Die Literatur aus Flandern hat sich schon früh der Avantgarde und der Moderne geöffnet und es fällt auf, dass die Bandbreite an experimentellen und erfrischend eigensinnigen Stimmen noch immer sehr groß ist. Ich denke auch an die Texte von Peter Verhelst, der schon mehrmals in »Ostragehege« vertreten war. Aber natürlich fallen einem zu solchen Sätzen gleich ein Dutzend entsprechender Beispiele auch aus den Niederlanden ein … Ich habe einmal die These gewagt, die sprachliche, historische und soziokulturelle Situation der Autoren und Autorinnen aus Flandern habe sich in einem feinen Sinn fürs Absurde niedergeschlagen, der ihre Werke durchziehe. Da ist vielleicht etwas dran.

Mir ist aufgefallen, dass Du immer auch Autorinnen und Autoren auswählst, die aus migrantischen Zusammenhängen kommen. Im aktuellen Heft sind es mit Asis Aynan, Rachida Lamrabet und Radna Fabias gleich drei. Gibt es überhaupt so etwas wie eine ›migrantische‹ Literatur in Belgien und den Niederlanden? Oder gehören ihre Vertreter, im Vergleich zu Deutschland, ganz normal zur niederländischsprachigen Literatur dazu?
Die Rede von ›migrantischer‹ Literatur erinnert mich tatsächlich an meine Studienzeit, wo wir Aras Ören und andere entdeckten. Meine Faszination für niederländische Literatur war schon immer auch dadurch begründet, dass ich Diskurse wahrnahm – wie etwa solche um neue Arbeitsformen, Wohnen und Stadtplanung, Globalisierung –, die in Deutschland nach meinem Empfinden erst mit ein paar Jahren Verzögerung geführt wurden. Dabei waren auch Belgien und die Niederlande etwa mit der öffentlichen Debatte um ihre koloniale Geschichte nicht gerade früh dran. Aber immerhin zu einem Zeitpunkt, als in Berlin noch recht naiv das Humboldt-Forum geplant wurde, ohne Reflexion der kolonialen Vergangenheit der Sammlungen.
Die niederländischsprachige Literatur ist in den letzten Jahren vielstimmig(er) geworden. Das spiegelt auch die Autorenauswahl wider, quasi in einer Nussschale. Interessant scheint mir aber, dass uns dies aus deutschsprachiger Perspektive so auffällt – vielleicht weil uns diese Diversität noch neu ist? Hinter dieser Vielstimmigkeit verbergen sich aber selbstverständlich kulturelle Debatten, in denen sich die Gesellschaft über sich selbst verständigt, auch in und anhand von Literatur. Ich denke beispielsweise an die Auseinandersetzung um die Gorman-Übersetzung, die ja auch in den Niederlanden ihren Ursprung hatte und dann hier eine Debatte auslöste – ohne dass ich diese hier jetzt wieder aufrollen wollte.

Im vorigen Jahr ist die zweite Nummer des sehr aufwendig gestalteten, zweisprachigen Poesiemagazins »Trimaran« erschienen. Dieses Jahr erscheint das nächste Heft, nicht wahr?
Ja, der »Trimaran« ist ein Übersetzungs- und Magazinprojekt der Kunststiftung NRW, der Niederländischen Literaturstiftung und von Flanders Literature. Christoph Wenzel und ich bilden die Kernredaktion. Im Zentrum steht ein jährlicher Übersetzungsworkshop mit zwei niederländischsprachigen und zwei deutschsprachigen Dichtern und Dichterinnen, die ihre Texte wechselseitig auf Basis von Interlinearfassungen – also paraphrasierenden und kommentierten Arbeitsübersetzungen – in die andere Sprache bringen, auf Wunsch unterstützt von Sprachmittlern. Im Augenblick sind Maud Vanhauwaert, Dean Bowen, José F. A. Oliver und Özlem Özgül Dündar bei der Arbeit. Das Magazin präsentiert darüber hinaus Essays, Interviews und Leuchtturmprojekte aus den drei beteiligten Poesieszenen, um eine bessere Vernetzung und nachhaltige Kooperationen zu befördern. Für das tolle Design ist übrigens Anke Berßelis verantwortlich.

In einem Essay im »Trimaran« Nummer 2 vergleichst Du eine Interlinearübersetzung mit einem »Rohdiamanten«. Inwiefern können die Ergebnisse solcher Übersetzer-Dichter-Kooperationen oder länderübergreifender Dichter-Tandems, für die es etwa mit der Reihe »Poesie der Nachbarn« ja prominente Beispiele gibt, »undiszipliniert« und dennoch gelungen sein?
Die Rede vom »Rohdiamanten« ist in diesem Essay über das Arbeiten mit Interlinearfassungen hochironisch gemeint, da es mir darum geht, ein Missverständnis aus dem Weg zu räumen: Nämlich die Vorstellung, es handele sich beim Übersetzen mit Interlinearfassungen um ein gerichtetes Übersetzungsmodell, bei dem man nur die Interlinearübersetzung schleifen und verfeinern müsse, bis sie schließlich ihre verborgene Schönheit enthüllt. Also um einen Prozess, der eher analog zu einem »konventionellen« Übersetzungsprozess wäre, allerdings mit der entscheidenden Besonderheit, dass man die Ursprungssprache nicht beherrscht.
Für mich begründen Interlinearfassungen jedoch kein Modell, sondern liefern Material. Was mit diesem Material geschieht und welche Rolle es fortan spielt, entscheidet sich erst im individuellen Arbeitsprozess: So können sich die übersetzenden Dichterinnen und Dichter dazu entschließen, nicht das sprachliche Ergebnis, das Gedicht also, zu übersetzen, sondern vielmehr das poetische Verfahren, das es hervorgebracht hat. Oder dazu, sozusagen eine Cover-Version des ursprünglichen Gedichts zu verfassen, die stark von der eigenen Klangfarbe und Instrumentierung bestimmt wird. Überhaupt ist die Bandbreite zwischen Remix, Cover, Nachdichtung, Übertragung und Übersetzung immens.

Damit kommen die Autorenpersönlichkeiten auch bei einer Übersetzung zu ihrem Recht …
Möglicherweise ist die jeweilige Übersetzung sogar eher ein Antwortgedicht auf den ursprünglichen Text als dessen Echo in einer anderen Sprache. Tatsächlich versuche ich dazu zu ermutigen, im Rahmen des »Trimaran«-Übersetzungsworkshops unkonventionelle, undisziplinierte Wege einzuschlagen. Wir bitten die teilnehmenden Autorinnen und Autoren in diesem Sinne außerdem darum, ein kleines gemeinsames Projekt zu entwickeln. Übersetzen wird dann nicht zum Vorausgesetzten, sondern zu etwas, das erst durch den Arbeitsprozess selbst definiert wird. Das ist dann unter Umständen eine ganz andere Definition, als ich sie eben für meine eigene Übersetzungspraxis aus dem Niederländischen skizziert habe.

Dein Engagement hat auch etwas mit Deinem eigenen Werdegang als Übersetzer zu tun?
Meine übersetzerischen ›Lehrjahre‹ fanden sozusagen im Umfeld des Übersetzungsprojekts »Poesie der Nachbarn« statt. Ich studierte damals bei dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Gregor Laschen in Utrecht, der diese Übersetzungswerkstatt initiiert hatte und leitete. »Im Fremdwort zuhaus« hieß wenige Jahre später recht treffend die Festschrift, die Hans Thill, Ingo Wilhelm – der damalige Leiter des Künstlerhauses Edenkoben – und ich zu Laschens 60. Geburtstag herausgaben. In dieser bezeugen zahlreiche Beiträge von Weggefährten und Weggefährtinnen die besondere, inspirierende Atmosphäre des Projekts. Ich erinnere mich daran, dass einer der Pioniere von »Poesie der Nachbarn« mir einmal sagte, die Arbeit mit Interlinearfassungen sei schlichtweg die einzige Möglichkeit gewesen, Dichter und Dichterinnen aus ›kleinen‹ Sprachen kennenzulernen, ins Deutsche zu bringen, vor allem aufgrund mangelnder Sprach- und Übersetzungskompetenz. Das ist heute natürlich anders. Interlinearfassungen gleichen daher in meinem Verständnis keinen Mangel aus, sondern sind ein Spielmaterial im kreativen Prozess, das Freiheiten ermöglicht, insbesondere Übersetzungsexperimente. In den von Interlinearfassungen initiierten Übertragungen möchte ich gerne etwas von dieser Lust am Spiel sehen.

Lieber Stefan, vielen Dank für dieses Interview.

 

Stefan Wieczorek, der 1971 in Koblenz geboren wurde, ist von Hause aus Literaturwissenschaftler. Nach Aufenthalten in Marburg, Bochum und dem niederländischen Utrecht lebt er heute in Aachen, im Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien. Nach seiner Promotion war er viele Jahre als Dozent und Wissenschaftler an der RWTH Aachen tätig, bevor er sich nach einer Zwischenstation bei einer Bildungs- und Unternehmensberatung als literarischer Übersetzer selbständig machte. Er kuratiert mehrere Buchreihen bei verschiedenen Verlagen mit Gegenwartsliteratur aus den Niederlanden und der nordbelgischen Region Flandern, in der Niederländisch gesprochen wird, und ist einer der Redakteure des zweisprachigen Magazins »Trimaran«, das in Flandern, den Niederlanden und Deutschland erscheint. – Stefan Wieczorek moderiert zudem Literaturveranstaltungen und Übersetzungsworkshops und schreibt über Poesie und die Kunst des Übersetzens. Neben seiner Vorliebe für Lyrik übersetzt er auch größere Erzählwerke wie etwa den Roman »Die Dirigentin« von Maria Peters, der unlängst verfilmt wurde, oder aktuell den in Flandern und im Kongo spielenden Roman »Der Menschenheiler« von Koen Peeters.