»Zwei Reisende, traumatisiert von der großen und kleinen Geschichte«
Axel Helbig im Gespräch mit Jaroslav Rudiš (Auszug)

Jaroslav Rudiš, geb. 1972, ist ein tschechischer Romancier, Dramatiker und Drehbuchautor, der auch in deutscher Sprache schreibt. Er studierte zunächst in Liberec, Zürich und Prag Germanistik, Geschichte und Journalistik, bevor er durch ein Journalisten-Stipendium nach Berlin kam. In Berlin entstand sein Erstlingsroman »Der Himmel unter Berlin« (2002), für den Rudiš im Jahr 2002 den Jiří-Orten-Preis erhielt. Im September 2006 erschien sein zweiter Roman »Grandhotel«, der auch verfilmt wurde. 2007 erschien sein dritter Roman »Die Stille in Prag«, der von der tschechischen Kritik sehr positiv aufgenommen wurde. Rudiš arbeitet daneben intensiv im dramatischen Bereich; gemeinsam mit Petr Pýcha hat er mehrere Theaterstücke verfasst. Die Werke Rudiš’ wurden ins Deutsche, Französische, Englische, Niederländische, Spanische, Polnische und Finnische übersetzt. 2018 erhielt er den Preis der Literaturhäuser und 2019 den Chamisso-Preis /Hellerau zugesprochen. Sein 2019 erschienener Roman »Winterbergs letzte Reise« wurde 2019 in der Kategorie »Belletristik« für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Axel Helbig: Lieber Jaroslav Rudiš, für Ihren 2019 im Luchterhand Verlag erschienenen Roman »Winterbergs letze Reise« erhalten Sie den Chamisso-Preis/Hellerau 2019. Dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich. Ehe wir über diesen Roman ausführlich sprechen, möchte ich Sie gern fragen, wie das Buch, wie die Literatur in Ihr Leben gekommen ist.

Jaroslav Rudiš: Ziemlich sicher durch die Bibliothek meiner Eltern. Vor allem mein Vater, von Beruf Elektromonteur, war ein leidenschaftlicher Leser. Auch meine Mutter, Kindergärtnerin von Beruf, hat viel gelesen. Beide haben inzwischen eine ziemlich große Bibliothek. Natürlich habe ich Kinder- und Jugendbücher gelesen.

Die erste tiefgreifende Lektüre fand aber in einer Zeit statt, in der ich wegen einer Lungenentzündung längere Zeit im Bett zubringen musste. Damals war ich 13 Jahre alt. Mein Vater hat mir »Die Geschicke des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges« in die Hand gedrückt, mit der knappen Formel: »Vielleicht magst Du das«. Und ich mochte es sehr. Mir war natürlich damals nicht bewusst, dass ich eines der wichtigsten Bücher der europäischen modernen Literatur in der Hand hielt, ein Buch, das ich bis heute liebe und immer wieder lese.

Nach dieser Lektüre habe ich die Bücherschränke meiner Eltern durchforstet und immer weiter gelesen. Der »Schwejk« wird ja oft als ein humoristischer Roman betrachtet. Ich denke heute anders über dieses Buch. Vor einigen Jahren war ich eingeladen, das Nachwort für die deutsche Neuübersetzung zu schreiben. In diesem Zusammenhang habe ich alles von Hašek noch einmal gelesen, auch die vielen kleinen Texte, die er für Zeitungen verfasst hat. Ich habe mich auf eine Reise zu Hašek begeben, u. a. nach Lipnice, in das Gasthaus »Zur böhmischen Krone«, wo er ungefähr zwei Drittel des »Schwejk« geschrieben hat. Ich konnte sogar in dem Zimmer übernachten, in dem auch Hašek während dieser Zeit gewohnt hatte. Dort habe ich diesen Roman wieder gelesen und habe vor allem das Traurige und Melancholische empfunden, das auch in diesem Buch enthalten ist. Es gibt grausame Bilder in diesem Roman. Die Soldaten fahren in einer Art Party-Stimmung an die Front, sehen aber dann die Gegenzüge mit den Verwundeten.

Hašeks Roman ist nicht zu Ende geschrieben, aber das ist die Geschichte auch nicht, die ist nie vollendet. Ich finde es eigentlich großartig, dass der Roman nicht zu Ende geschrieben ist. Es ist ein Buch, zu dem ich immer wieder zurückkehre. Es ist das Buch, das bei meinem Vater auf dem Nachttischchen liegt, statt der Bibel. Ein Freund hat mir von seinem Vater Ähnliches berichtet. Mein Vater schlägt das Buch an den unterschiedlichsten Stellen auf, ich denke, er kennt den »Schwejk« inzwischen auswendig. Es ist für mich ein unglaublich aktuelles Buch über die nationalistischen Konflikte in Mitteleuropa.

Sehr früh hat mich auch Hemingway interessiert, der in der Bibliothek meiner Eltern stand, vor allem »In einem anderen Land«, sein Buch über den Ersten Weltkrieg, das ich mit 15 Jahren las. Bei Hemingway faszinieren mich bis heute diese melancholischen Dialoge, die eine große Leichtigkeit auszeichnet. Das habe ich dann bei einem tschechischen Autor wiedergefunden – bei Josef Škvorecký, in dessen Roman »Feiglinge«. Škvorecký ist leider in Deutschland zu wenig bekannt. Ich habe dieses Buch mehrfach an Freunde in Deutschland verschenkt.

Die deutschsprachige Literatur kam erst während des Germanistikstudiums an der Universität in Liberec dazu. Genau in die Umbruchstimmung von 1989 hinein hatte ich von meinem Lehrer auf dem Gymnasium auch erste Hinweise auf Milan Kundera erhalten. Der gleiche Lehrer gab uns »Die Verwandlung« von Franz Kafka zu lesen, damals noch als tschechische Ausgabe. Die ganze deutschsprachige Literatur der Tschechoslowakei war in den dreißiger und vierziger Jahren mit vertrieben worden und kam erst später wieder in das Bewusstsein zurück. Auch Kafka ist in Tschechien erst nach 1989 von einer breiten Leserschaft entdeckt worden. Bei uns zu Hause hatte es vor 1989 wie in vielen tschechischen Familien neben der vorderen Bibliothek noch eine versteckte hintere Bibliothek gegeben, wo bei meinen Eltern die Bücher von Škvorecký und Kundera standen. Diese Bücher gab es nicht in den Buchhandlungen. Diese Schätze der nicht existierenden und doch existierenden Literatur hat man auch an gute Freunde ausgeliehen.

Ihr Roman »Winterbergs letzte Reise« holt weit aus. Die Hauptgestalt Wenzel Winterberg ist 99 Jahre alt, so alt wie die Tschechoslowakische Republik, ein mit Geschichte und Lebenserfahrung gesättigter Mensch, der alte Rechnungen zu begleichen hat und aus diesem Grund – ausgerüstet mit dem Baedeker Österreich-Ungarn von 1913 – eine Reise durch halb Europa unternimmt. Winterberg ist Deutscher, er stammt aus dem böhmischen Reichenberg (heute Liberec), einem Ort, der nahe Ihrem Geburtsort Lomnice nad Popelkou liegt. In dieser Gegend sind Sie aufgewachsen. In Liberec haben Sie später Germanistik und Geschichte studiert. Diese Gegend war in der Zeit der Hussitenerhebungen, im Dreißigjährigen Krieg, in der Zeit der Preußisch-Österreichischen und Napoleonischen Kriege bis zum Zweiten Weltkrieg und dem Abzug der Sowjetarmee Durchzugsort von Truppen unterschiedlichster Mächte. Ist man, wenn man in solch einer Gegend aufwächst, per se ein an Geschichte interessierter Beobachter des Weltgeschehens? Folgt Ihr Roman auch dem Impuls, versunkenes Wissen über die Geschichte Europas heraufzuholen?

Liberec ist historisch betrachtet ein sehr spannender Ort. Hier spielt sich nicht nur böhmische, sondern auch österreichische, sächsische, deutsche und europäische Geschichte ab. Im Roman wird das auch deutlich. In einem Talkessel zwischen Bergen gelegen, kann Liberec dabei auch für Böhmen als Ganzes stehen, es ist das ganze Land im Kleinen.

Mir war schon als Jugendlicher diese Vielzahl an Kriegsgräbern in unserer Gegend aufgefallen. Gräber der gefallenen Sowjetsoldaten und der Opfer des Nationalsozialismus, aber auch ältere Gräber aus Zeiten bis tief in das 19. Jahrhundert zurück. Sieben Meter vom Grab meiner Großeltern entfernt stehen zwei Denkmale für die Gefallenen des Krieges von 1866. Nicht nur bei Königgrätz, auch in den umliegenden Orten wurde 1866 gekämpft. Auf dem Friedhof meines Geburtsortes gibt es Kriegsgräber für die damals gefallenen preußischen, österreichischen und sächsischen Soldaten. Ziemlich sicher haben auch meine eigenen Vorfahren an diesen Kämpfen teilgenommen. Meine beiden Urgroßväter waren ja noch Österreicher, einer lebte in Wien. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, wie ihr Urgroßvater ihr von der Schlacht bei Königgrätz erzählt hat. Die Dorfbewohner sind damals auf die Hügel hinaufgestiegen, um sich das Gemetzel der 500.000 an der Schlacht beteiligten Soldaten anzuschauen.

In ganz Mitteleuropa trifft man auf diese beautiful landscapes of battlefields, cemeteries and ruins, wie es im Roman an mehreren Stellen heißt. Diese Gegenden sind zumeist malerisch schön, aber durchsetzt von Schlachtfeldern und Kriegsgräbern. Diese Toten unter der Erde hört Winterberg, sie sprechen zu ihm. Er versucht, diese ganze verrückte Geschichte zu verstehen. All das, was Winterberg aufruft, ist eine einzige große mitteleuropäische Erzählung, ein großer Zusammenhang. Diese europäische Geschichte reicht in die private Geschichte der Familien hinein. Winterberg ist davon besessen, diesen großen Kontext noch einmal zu durchlaufen. Er will, dass auch andere diesen großen Zusammenhang verstehen lernen. In dieser Hinsicht scheitert er allerdings, das führt im Roman zu sehr vielen komischen und zugleich melancholischen Situationen. Der Humor war mir wichtig. Wenn man als Böhme keinen Humor hat, ist man verloren auf dieser Welt.

Der Roman beginnt mit dem Satz von Winterberg: »Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz.« Später sagt er: »Die Schlacht bei Königgrätz war der Anfang von allen meinen Katastrophen, der Anfang von allen unseren Katastrophen«. Warum haben Sie gerade dieses Schlachtfeld als einen zentralen Handlungsort für Ihren Roman ausgewählt?

Der erste Satz stammt von einem Leipziger Freund, Egbert Pietsch, dem der Roman auch gewidmet ist, dem Verleger des Leipziger Stadtmagazins »Kreuzer«. Er reist tatsächlich mit einem alten Baedeker von Österreich-Ungarn durch die magischen Landschaften Mitteleuropas. Egbert sagt, neun von zehn Menschen haben keine Ahnung, wovon ich rede, wenn ich diesen Satz sage. Ich fand das schräg. Aber es stimmt. Diese Schlacht war der Ausgangspunkt von vielen unsäglichen Entwicklungen in Mitteleuropa, damals wurden die Weichen gestellt. Die Weichen sage ich, weil »Winterbergs letzte Reise« auch ein Eisenbahnroman ist. Weichen sage ich aber auch, weil die Schlacht bei Königgrätz die erste Schlacht war, bei der es Truppenverlegungen mit der Eisenbahn gegeben hat. Nach der Schlacht wurde Preußen mächtig, Österreich verlor an Bedeutung. Fünf Jahre später entsteht das Deutsche Reich.

Schon unmittelbar nach der Schlacht hat es in Frankreich eine Bewegung »Rache für Sadová« gegeben, die später in den Deutsch-Französischen Krieg 1871/72 mündete.

Ja, man hatte Angst vor dieser neuen Macht Preußen. Die Machtverhältnisse in Europa hatten sich verschoben. Es gibt Historiker, die behaupten, dass diese Schlacht auch die Weichen in Richtung der beiden Weltkriege gestellt hat. Preußen hat diese große Schlacht gewonnen, was zur deutschen Reichsgründung beitrug. Im Ergebnis der beiden Weltkriege war Deutschland jedoch der große Verlierer. Ich war mit Egbert mehrmals auf den Schlachtfeldern bei Königgrätz. Man staunt, wie sehr die Landschaft heute noch, fast 160 Jahre später, von diesem Ereignis geprägt ist. Wenn man dort in ein Gasthaus einkehrt, hört man, dass die Einheimischen immer noch von dieser Schlacht sprechen, als hätte sie erst gestern stattgefunden.

Theodor Fontane ist im Übrigen kurz nach der Schlacht aufgebrochen, um das Schlachtfeld zu besichtigen. In seiner literarischen Reportage kann man dies nachlesen. Er hat auf dieser Reise sogar Lomnice nad Popelkou besucht. Hier bin ich aufgewachsen. Nahe dem Marktplatz hat es zu dieser Zeit drei Spitale für Kriegsverletzte gegeben. Eines für die preußischen Soldaten. Er hatte diese besucht und mit ihnen gesprochen. Einer der Soldaten, von denen Fontane berichtet, ist unweit meiner Großeltern begraben. Allein wie Fontane die Landschaft beschreibt, ist lesenswert. Dieses Buch gibt es allerdings nur auf Deutsch.

Zum Zeitpunkt von Winterbergs Geburt im Jahr 1918 war die Bevölkerung von Reichenberg sehr gemischt, neben Deutschen und Tschechen hatten auch Juden und andere in eine über Jahrhunderte gefügte Ordnung gefunden, die im Wesentlichen durch die Politik und Verwaltung in der Österreichischen k.u.k.-Monarchie bestimmt gewesen ist. Böhmen war wie Österreich eine funktionierende Völkergemeinschaft. Winterberg bezeichnet sich im Sinne dieser Gemeinschaft als »stolzer Böhme«. In Ihrem Roman wird das Zerbrechen dieser Gemeinschaft thematisiert. Beginnend mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik und einem damit verbundenen gesteigerten Nationalbewusstsein, fortgesetzt mit dem Einmarsch der deutschen Truppen 1938 und der zeitgleich beginnenden Judenverfolgung, dann mit der Befreiung der Tschechoslowakischen Republik am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland. Wie ist Ihre Familie, wie sind Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern von diesen Ereignissen betroffen gewesen?

Das spiegelt sich in den Familienbiografien wider. Ich habe viele Leser meiner Bücher in Deutschland, die diesen Migrationshintergrund haben, deren Vorfahren 1945 nach Sachsen oder Bayern gekommen sind. Inzwischen gibt es sehr viele Leser aus meiner Generation, die sich auf eine Spurenlese in der Geschichte begeben, die nach Schlesien, Böhmen und Mähren fahren, um etwas über ihre eigenen Wurzeln zu erfahren. Es gibt Leser von »Winterbergs letzte Reise« aus Leipzig und Regensburg, die mit dem Roman in der Hand die Heimat ihrer Vorfahren besucht haben.

Meine Vorfahren waren natürlich auch betroffen von diesen Ereignissen. Einer meiner österreichischen Urgroßväter kam nach dem Ersten Weltkrieg in ein neues Land. Aus Böhmen, als Teil der k.u.k.-Monarchie, war die Tschechoslowakische Republik geworden, deren Bürger er nun war. Einer meiner Großväter war Zwangsarbeiter in Bremerhaven und hat dort Schiffe entladen. Im Winter 1945 ist er während eines Bombardements geflohen und auf abenteuerliche Weise in seine Heimat zurückgekehrt. Später hat er noch drei geflohene Sowjetsoldaten versteckt. Diese Jahre – 1866, 1918, 1938 und 1968 – haben die Menschen in meiner Heimat stark geprägt. Ich habe immer versucht, dies auch literarisch zu verarbeiten. Auch ich bin wie Winterberg ein Mensch, durch den Geschichte hindurchgeht, der an Geschichte leidet, der von Geschichte besessen ist. Meine Freunde können davon ein Lied singen.

Was macht das mit einer Region, wenn diese historisch immer mehr ausgdünnt wird? Erst waren die Juden, später die Deutschen vertrieben worden, 1989 haben sich auch Tschechen und Slowaken getrennt.

Es ist eine Reise in die Einsamkeit. Vielen in meiner Heimat ist gar nicht klar, dass mit diesen Verlusten auch Teile der böhmischen Seele abhandengekommen sind. Wenn man durch Liberec, Prag oder Brno geht, sieht man, wieviel von diesen Städten jüdisch oder deutsch geprägt ist, wie alles dies zusammen erst ein Ganzes bildet. Dieses Miteinander hat die böhmische Kultur geprägt. Natürlich hat es auch nationalistisch forcierte Auseinandersetzungen gegeben, die diese Gemeinschaft letztlich gesprengt haben.

Ich versuche mit meinen Büchern, diese Geschichte zurückzuholen. Ich bin kein Nostalgiker. Aber mir ist klar – und das versuche ich zu vermitteln – dass man Böhmen als Ganzes nur verstehen kann, wenn man die deutsche und jüdische Vergangenheit mitdenkt. Die historischen Zusammenhänge, die die Region Böhmen prägen, sind sehr komplex und nur als mitteleuropäische Geschichte fassbar und verstehbar. Ein weiterer Verlust betrifft die Zweisprachigkeit der Region. Das war ein wichtiger Grund für mich, die deutsche Sprache zu erlernen. Wenn man in Liberec Geschichte studiert, muss man die deutsche Sprache kennen.

Aus deutscher Sicht stellt sich das mitunter so dar, als wäre ein großer Teil der Prager Literatur von deutschen Autoren geschrieben worden.

Aus tschechischer Sicht ist es genau umgekehrt. Das ist eine sehr interessante Frage. Die deutschsprachige Literatur aus Böhmen, Mähren und Schlesien ist noch heute total unterbeleuchtet in Tschechien. Die »Prager deutsche Literatur« ist ein Label. Es gibt natürlich viel mehr wiederzuentdecken.

Dies betrifft im Übrigen auch die ganze deutsche Künstlerszene Böhmens. In Liberec hat es gerade eine außerordentlich erfolgreiche Ausstellung gegeben mit Bildern der deutschsprachigen Maler aus der Tschechoslowakischen Republik von 1918 bis 1938. Die Sammlung dieser Bilder war erst kürzlich im hintersten Teil des Liberecer Museumsdepots entdeckt worden. Diese Bilder hatten dort seit 1945 gestanden, etwas verstaubt aber gut erhalten. Das war die erstaunliche Entdeckung eines inzwischen unbekannten Teils der tschechischen Moderne.

Diese Künstlerszene war doppelt vernetzt, einerseits sehr intensiv mit ihren tschechischsprachigen Kollegen in der Tschechoslowakei, andererseits mit der sehr lebendigen Künstlerszene im Deutschland der Weimarer Republik. Das betrifft auch die Architektur. Rudolf Bitzan, der Erbauer der Reichenberger Feuerhalle – im Roman ist Winterbergs Vater deren erster Betreiber – ist zugleich einer der maßgeblichen Architekten des Leipziger Hauptbahnhofs.

Das Liberecer Krematorium taucht bereits in meinem Roman »Grandhotel« auf. Es war das erste Krematorium Österreichs, eingeweiht ein Jahr vor dem Ende der k.u.k.-Monarchie. In der katholischen Doppelmonarchie war die Feuerbestattung nicht erlaubt, im protestantisch geprägten Reichenberg hatte man das anders gesehen. Reichenberg war das deutschsprachige Zentrum Böhmens mit vielen Verlagen. Bis 1938 hat es die sehr liberale »Reichenberger Zeitung« gegeben. Reichenberg hatte zu dieser Zeit einen sehr deutsch-liberalen Bürgermeister, Carl Kostka, der ein Verteidiger der Demokratie und der Republik war, ein Held, der von den Nazis gehasst wurde. Kostka und seine Verdienste werden in Tschechien gerade wiederentdeckt, was mich sehr freut.

Liberec ist für mich auch Familiengeschichte. Mein Großvater Alois – Vorbild für die Graphik-Novel-Figur Alois Nebel – ist im Liberecer Krematorium eingeäschert worden. Mein Onkel war Fahrdienstleiter auf dem Liberecer Bahnhof. Meine Liberecer Tante ist eine geborene Kafka, ohne mit Franz Kafka verwandt zu sein.

[…] (Auszug)