Editorial

Zwei Schwerpunkte sind es, die das neue OSTRAGEHEGE bestimmen: Zum einen gibt das neue Heft einen Einblick in die aktuelle Slowakische Literatur, zum anderen widmet es sich dem gleichermaßen historischen wie aktuellen Thema Flucht und Vertreibung. Ulrike Draesner thematisiert in ihrem Roman »Schwitters« die Flucht von Kurt Schwitters ins norwegische und englische Exil. Im Interview mit Axel Helbig erläutert sie unter anderem die Hintergründe für die Themenfindung: »Was bedeutet eigentlich Vertreibung, Zwangsvertreibung, sowohl für die Menschen, die sie erleben, als auch für die nachfolgenden Generationen? […] Darin, was mir über Schwitters erzählt wurde, erkannte ich Traumatisierungs- und Verletzungsmuster wieder, die mir bei der Recherche zu ,Sieben Sprünge vom Rand der Welt‘ begegnet waren.« »Schwitters« ist der zweite Roman einer Trilogie. Ein Vorabdruck aus dem noch unveröffentlichten dritten Teil »Die Lügen unserer Mütter sind die besten« ergänzt das Interview auf eindringliche Weise.

Die Leipziger Übersetzerinnen Andrea Reynolds und Stefanie Bose vermitteln den Lesern von OSTRAGEHEGE einen Blick auf die aktuelle Slowakische Literatur. Sowohl Andrej Hablák als auch Michaela Rosová sind Entdeckungen für die deutschsprachigen Leser. In Andrej Habláks Gedichten sieht Andrea Reynolds »Aspekte des Romantisch-Rebellischen, des Geistlichen und des Aufbruchs in eine neue Ästhetik der Poesie«, denen Hablák in seinem aktuellen Gedichtband eine weitere Dimension hinzufügt: das sichtbare Nichts, die weiße Einsamkeit. Reynolds verweist auf die vielfach variierende Darstellung der Natur und der Elemente in Habláks Texten, die von vertrauten Wahrnehmungen und geläufiger Symbolhaftigkeit
wegführt. Andrej Hablák betrete durch seine Verankerung in dieser anders intonierten Natur eine neue Dimension der Einsamkeit – als neue »Stimme der Stille«.

An Michaela Rosová hebt Andrea Reynolds »die besondere narrative Konstruktion, durch das Einbeziehen des DU, durch den Kontrast von durchkalkuliertem und schreibtechnisch exzellent umgesetztem Abstand einerseits und emotionaler Nähe andererseits« hervor. Dadurch werde in dieser Novelle eine enorme Souveränität einer Protagonistin und Erzählerin etabliert. Rosová öffne »durch eine sehr unkonventionelle, zunächst etwas verunsichernde und doch äußerst effektive und virtuose Schreibweise die Tür zu einem neuen Raum der literarischen und der menschlichen Wahrnehmung.«

Den künstlerischen Rahmen des neuen OSTRAGEHEGE bilden die Arbeiten von Jo Siamon Salich. Bezug genommen wird auf dessen Ausstellung GOLDIGE ZEITEN II, die am 19. Juni 2020 vom Dresdner Dichter und Freund Henrik Weiland eröffnet worden war. Dem kurz darauf verstorbenen Freund widmet Jo Siamon Salich die Publikation seiner Arbeiten in diesem Heft. Der Kunstteil wird so auch zu einem letzten Gespräch zweier Freunde. Henrik Weiland reflektiert in seiner Eröffnungsrede auf Jo Siamon Salichs Mensch-Maschinen: »Fantasiegestalten, hybride Wesen hinter roten, schwarzen Masken … Chimären, Phantome, oder Kreaturen im Zerfall, immer neue Machtformen stilistischer Aufdringlichkeit in Goldumrahmung, ausgesprengt aus einer berauschenden Glanzerscheinung, real-irreales Hinübergleiten in einen cybernetic organism.« Jo Siamon Salich erinnert an die zahlreichen Gespräche mit dem Freund: über die Herkunft der Worte, den Hintergrund ihrer Entstehung und den Zusammenhang, den Worte herstellen können, die Schwere und die Leichtigkeit, das Schweben und die Last, die Macht und auch die Ungenügsamkeit, die Begrenztheit von Worten.