(Aus dem Tschechischen von Veronika Siska)
Endlich habe ich gefunden, wonach ich schon seit Jahren suchte: den Hinweis, wo jener Geheimgang beginnt, der zum Malachitpalast am Ufer des unterirdischen Flusses führt – dorthin war ich vor zwanzig Jahren zu einem Fest eingeladen gewesen. Völlig umsonst habe ich deshalb die sechsundvierzig Bände der Oxford-Enzyklopädie gelesen, jetzt liegen sie mir schwer im Kopf und stoßen schmerzhaft gegen den Schädel, wenn ich mich nachts im Bett hin und her wälze – und plötzlich finde ich die detaillierte Wegbeschreibung in der Fußnote einer Broschüre über Kaninchenzucht auf schlechtem Papier, herausgegeben vom Kleintierzüchterverband einer Kreisstadt – klar, das war zu erwarten. Fußnoten liest niemand, alle wollen so schnell wie möglich zum Buchende kommen, als würden sie fürs Lesen nach Metern bezahlt, mit Spezialmethoden lernen sie sogar, noch schneller zu lesen, am liebsten würden sie sich das Buchkonzentrat auf einmal in den Kopf injizieren, ohne sich überhaupt mit dem Lesen aufhalten zu müssen. Niemand hat Lust, seinen Weg zu unterbrechen, in den Seitenkeller hinabzusteigen und wieder zurückzukehren; man kann das teils damit entschuldigen, dass in Fußnoten meist eh nur Hinweise auf Bücher stehen, die sowieso unzugänglich sind – falls überhaupt existent –, da sie gewöhnlich in Felsenhöhlen verräumt sind, außerdem wird in den Fußnotenbereich oft allerhand Ramsch aus dem ganzen Buch gekehrt, auch giftige Wörter, die eine schmerzhafte Entzündung im Kopf verursachen können; allerdings wären unsere Leser selbst dann zu faul, ihren Weg zu verlassen, wenn sie wüssten, dass in der Fußnote jenes Kochrezept zu finden ist, nach dem man sich den Stein der Weisen zusammenbrauen kann – mit den Zutaten, die jeder zu Hause in der Küche stehen hat. Mir ist nicht ganz klar, wohin die Leser so verbissen eilen; sie werden dasjenige sowieso niemals einholen, dem sie im Buch hinterherhecheln, weil sie es ständig überholen, doch das sehen sie wohl nicht. Die wahre Botschaft des Buches findet nur jemand, der langsam wie am Strand durch die Zeilen schlendert und dem leisen Wellenschlag der Sprache lauscht. Wer trödelt, überholt den schnellsten Läufer. Was würden wohl die Buchsprinter zu meinem Archäologenfreund sagen, der die von einem Bergsee zum Teil überflutete Hauptstadt eines längst untergegangenen Reiches in Asien erforschte: Er las ihre hieroglyphisch in die Tempelfassade eingemeißelte Verfassung, rutschte dabei über flache Mauervorsprünge, wo er nur auf Zehenspitzen stehen konnte, und an anderen Vorsprüngen klammerte er sich mit den Händen fest. In fast jedem Satz wurde auf eine Fußnote verwiesen, das war das Schwierigste; doch mein Freund, nicht faul, kletterte immer, sobald er auf ein Sternchen hinter einem Wortende stieß, an der Mauer hinab und tauchte in den eiskalten See, denn die Fußnoten befanden sich bereits tief unter der Wasseroberfläche. Während er die Algen und die festgesaugten Muscheln von der Mauer entfernte, um die Hieroglyphen entschlüsseln zu können, hörte er ein Klappergeräusch wie von Kastagnetten um sich herum: Es war das Zähnerattern eines Raubfischschwarms, der um ihn herum immer kleinere Kreise schwamm. Dann kletterte er wieder über die Wand hinauf, durchnässt, raubfischzerbissen und behangen mit Algen, die im kühlen Bergwind an ihm flatterten, und las dort weiter, wo er unterbrochen worden war, nur um kurz darauf wieder unter die Wasseroberfläche einzutauchen. In der Fußnote steht, die Tür zum Gang des unterirdischen Malachitpalastes befinde sich in der Rückwand eines vollgestopften Kleiderschrankes in einer Smíchover Wohnung, ich kann nur die Haus- und Wohnungsnummer lesen, nicht aber den Straßennamen, weil ihn ein Käfer mit metallischen Deckflügeln und riesigen, hochgereckten Mundwerkzeugen verdeckt. Mit einem Bleistift will ich ihn wegschieben, doch der Käfer verbeißt sich darin, entreißt ihn mir und wirft ihn auf den Boden. Den ganzen Abend kämpfe ich mit dem Käfer, meinen Bleistift, Füller, Kamm und meine Zahnbürste hat er schon kaputtgemacht, sodass ich mich schließlich mit bloßen Händen auf ihn werfe, in die er sich lustvoll verbeißt, doch während der ganzen Zeit bewegt er sich keinen Millimeter vom Fleck und gibt keinen einzigen Buchstaben des Straßennamens preis. Dies alles spielt sich im Allgemeinen Lesesaal der Universitätsbibliothek ab und ich weiß, dass ich die Broschüre über Kaninchenzucht nie wieder in die Finger bekommen werde, weil in der Bibliothek alle Bücher, die tagsüber ausgeliehen werden, jeden Abend aus Hygienegründen verbrannt werden müssen. (Die Buchreserven sind für 258 Jahre ausgerechnet, danach wird in den Räumlichkeiten der Universitätsbibliothek eine Markthalle entstehen.) Warum habe ich immer so ein Pech? So oft war ich schon fast am Ziel, aber immer stellte sich mir eine schicksalhafte Kleinigkeit in den Weg. Fast hätte ich im Jubiläumsjahr den Prager Kaffeehausmarathon gewonnen, doch ich wurde disqualifiziert, weil ich Dr. Winters Brioche aufgegessen hatte. Ich wurde zu den Mysterien von Eleusis ins Turnerhaus in Kunratice eingeladen, konnte aber nichts sehen, weil die Dame eine Reihe vor mir einen hohen, violetten Hut trug und ich mich nicht traute, sie zu bitten, ihn abzunehmen. Alle, die den Mysterien beiwohnten, wurden zu Eingeweihten, sie behaupten, jenen Punkt erreicht zu haben, von dem aus laut André Breton »Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden«. Und nicht nur, dass sie an diesen Punkt angelangt sind, sie haben sich dort offenbar wie in einem Wohnzimmer eingerichtet. Sie gründeten die Bruderschaft der Eingeweihten und treffen sich regelmäßig im Restaurant U Horymíra – ich gehöre selbstverständlich auch der Bruderschaft an und gehe ebenso jeden Freitag ins Restaurant, weil es mir peinlich wäre zuzugeben, dass ich nichts gesehen und keinen Punkt erreicht habe. (Dabei hätte es mir für den Anfang genügt, wenigstens an den Punkt zu gelangen, an dem sich der Gegensatz auflöst zwischen der Sehnsucht, leise und von allen unbeachtet in Abgeschiedenheit zu leben, und dem Bedürfnis, jeden durch kuriose, gar geschmacklose Provokationen auf sich aufmerksam zu machen.) So besuche ich die Treffen der Eingeweihten, höre mir an, worüber sie reden, und weiß überhaupt nicht, worum es geht, die Zeit vertreibe ich mir mit Meditationen über das geheimnisvolle Mosaik der an mittelalterliche Inkrustationen erinnernden Presswurst und über die Form der Bierlachen auf der Tischplatte aus braunem Resopal: aus ihnen entstehen mythologische Szenen mit Drachen, Feen und Flügelpferden. Immer muss ich mir neue raffinierte Methoden ausdenken, um zu verbergen, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, worüber sich die Eingeweihten unterhalten, meine Nerven liegen blank, ständig plagt mich die Panik, mein Betrug könnte auffliegen und die Eingeweihten könnten sich auf mich stürzen, mich aus dem Restaurant und dann erbittert durch die nächtlichen Prager Straßen jagen. Der Besuch des unterirdischen Palastes könnte diese unerträgliche Situation radikal verändern, doch jetzt ist wieder dieser sture, bösartige Käfer aufgetaucht. Wenn ich bedenke, an wie vielen anderen Stellen der Käfer sitzen könnte – auf wunderschönen und berauschend duftenden Blüten, auf der Brust einer schlafenden Jungfrau, auf einer farbenprächtig illuminierten gotischen Handschrift, auf wertvollen bibliophilen Büchern, und wenn er schon darauf besteht, auf einer Broschüre über Kaninchen zu sitzen, die so dilettantisch geschrieben ist, als hätte sie ebenfalls ein Kaninchen verfasst, könnte er sich wenigstens zwei Zeilen höher platzieren. Aber nein, der Käfer macht es sich an der einzigen Stelle der Welt gemütlich, von der aus er mein Glück zerstören kann. Aber was kann ich tun? Ich werde das Ganze anders angehen müssen, ich werde mich mit den Bewohnern von Smíchov bekannt machen, und wenn sie mich zu sich nach Hause einladen, einfach warten, bis sie kurz aus dem Zimmer gehen: Dann werde ich schnell in den Kleiderschrank steigen, dort im Dunkeln herumtasten und hinter den hängenden Mänteln die Türklinke zum Geheimgang suchen. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass sich fast in jedem Kleiderschrank eine Tür zu einem Geheimgang befindet, die aber nicht zu einem unterirdischen Palast führt, sondern höchstens zu einem vergessenen Depot ausrangierter Rezitationspuppen oder zu einem vergrabenen Dampfer. (Es wurden bereits siebzehn Überseedampfer unter Prag gefunden; der Grund für dieses Phänomen ist noch nicht bekannt, möglicherweise hängt die ganze Angelegenheit mit den Experimenten zusammen, bei denen man Schlachtvieh geschredderte phänomenologische Studien ins Futter mischte). Es ist auch kein Spaß, sich durch die Kleider und Mäntel auf den Bügeln bis zur hinteren Schrankwand zu kämpfen; leicht können ihre schweren, betäubenden Düfte Halluzinationen hervorrufen – ich selbst hatte einmal nach dem Einatmen dieser gefährlichen Dämpfe eine lebendige Vision, in der ich über die Karlsbrücke ging und sah, wie anstelle des hl. Veit dort ein Riesentiger lag und durch die zusammengekniffenen Augen über die Stadt blickte. Proust beschreibt, wie ihm der Geschmack eines Feingebäcks, eingetunkt in Lindenblütentee, die verlorene Welt seiner Kindheit in Combray in Erinnerung rief. Als mir neulich in einer fremden Wohnung der Duft eines halboffenen Kleiderschrankes entgegenwehte, erinnerte ich mich, wie ich ein Jahr lang mit einem Mädchen in einem Häuschen auf einer Lichtung mitten im tiefen Wald lebte, er bestand aus lauter Garderobenständern, an denen Mäntel, Sakkos und zottelige Pelze hingen. Wir lebten von Leckereien, die wir aus den Manteltaschen fischten; jeden Morgen gingen wir mit einem Weidenkörbchen in den Wald, um sie zu sammeln, auf dem Weg machten wir Kerben in die Ständer, um uns im weitläufigen und unübersichtlichen Wald nicht zu verirren. Am schwierigsten war es im Winter, die Taschen waren mit Schnee zugeweht und wir hatten nichts zu essen. Wir kämpften uns durch die schweren Schneewehen zwischen den eingeschneiten Mänteln und sobald ein Schneesturm aufzog, schlug der Wind die schweren vereisten Ärmel hin und her, auch in unsere froststarren Gesichter, Wollschals flogen durch die Luft wie Geister, Fellmützen kugelten über den Schnee, verfolgt von Fuchs und Wolf, die sie für ein fliehendes Tier hielten. Es ist lange her, dass ich das Mädchen, mit dem ich ein Jahr im Mantelwald verbracht hatte, zum letzten Mal sah. Dieses Jahr hörte ich im Café des Kunstgewerbemuseums, es habe eine steile Karriere gemacht und sei nun stellvertretende Ministerin – ob sie sich manchmal an unser Umherirren zwischen den eingeschneiten Mänteln erinnert? Taschen sind allerdings immer geheimnisvoll und beunruhigend. An der neuesten Mode ist die übermäßige Anzahl funktionsloser Taschen lobenswert. Hegel behauptet in seiner Ästhetik zwar, der moderne Anzug sei mit seinen vielen Nähten, Knöpfen und Taschen im Vergleich zu den freien, durchgängigen Linien der antiken Kleidung durch »schlechthin unfreie Formen, (…) Falten und Flächen« charakterisiert, so dass der moderne, durch Taschen aufgequollene Anzug »an der organischen Gestaltung der Glieder (…) gerade das sinnlich Schöne, die lebendigen Rundungen und Schwellungen verbirgt, und an deren Stelle nur den sinnlichen Anblick von einem mechanisch verarbeiteten Stoffe giebt«, doch wir wissen, dass die Taschenanzahl, die meist noch nicht einmal der Anzugbesitzer überblickt, höchst poetisch ist, da sie aus einem Anorak oder einer Hose eine ebenso mysteriöse, gespenstische und unberechenbare Wesenheit macht wie eine Kommode mit Geheimfächern – oder die düstere, labyrinthische Burg Elsinor. Taschen sind Räume, die sich dagegen sperren, sich uns zu öffnen, in seinen Taschen verwahrt der Anzug sein dunkles Für-sich-Sein, die Taschen sind ein Reservoir wundersamer Begegnungen und Offenbarungen, sie bewirken, dass unser Anzug in einen sonderbaren Zusammenhang mit der Nischenpyramide in El Tajín gerät, sie sind geheime Buchten unseres Lebensraums, in denen die Gegenstände, die dort angeschwemmt wurden, beunruhigende und dämonische Bedeutung erlangen. Für gewöhnlich fassen wir nur in wenige Taschen hinein und die übrigen bleiben unbenutzt wie das dreizehnte Gemach; wenn wir etwas, aus welchem Grund auch immer, in eine Tasche stecken, die wir nicht benutzen, und es dann vergessen, ist die Hoffnung, es wiederzusehen, verschwindend gering. Das Ding, in der Dunkelheit auf dem Taschenboden verborgen, verändert sich, die Taschengifte und der Speichel der Tiere, die in den Taschen leben und an den Dingen lecken, zersetzen die Schutzschicht der unproblematischen Alltagsbedeutung; unter ihr kommt ein Gesicht mit bösem Blick zum Vorschein, es treten Formen zutage, die man nicht einordnen kann, und ein unbekanntes Material, offenbar Aristoteles’ erste Materie. Manchmal, wenn wir etwas suchen, durchforsten wir gründlich all unsere Taschen: Unsere Hände irren darin herum wie hilflose blinde Tiere in fremden Erdlöchern, unsere Fingerspitzen tasten unsicher und furchtsam die mehrdeutigen Formen ab, auf die sie in der engen Dunkelheit treffen, sie bringen die Formen zum Vorschein – verlegen betrachten wir dann die verdächtigen Gegenstände, von denen wir überhaupt keine Ahnung haben, wie sie in unsere Taschen gelangt sind und oft auch nicht, woher sie kommen und was sie bedeuten. Unsere Anzugtaschen gehören zu den bemerkenswertesten archäologischen Fundstätten; man wird eine neue wissenschaftliche Disziplin gründen müssen, die sich mit Taschen beschäftigt, eine wissenschaftliche Sinusologie, eine Disziplin, die die Speläologie mit der Transzendentalphilosophie vereint, man wird Grunderkenntnisse der Chemie, Biologie, Paläontologie und der Taschenmetaphysik zusammenbringen müssen. Neulich konnte ich in der Straßenbahn meinen Fahrschein nicht finden und durchsuchte deshalb all meine Taschen; der interessanteste Fund war ein mehrmals gefaltetes Blatt Papier mit schwarzgewordenen Eselsohren. Als ich es auffaltete, las ich meinen Namen und meine Adresse auf einem Briefumschlag, er war geöffnet und enthielt folgenden Brief: »Werter Freund! Was für eine unbeschreibliche Freude hat mir und meiner Gattin Ihr weiser und freundlicher Brief bereitet! Die ganze Nacht musste ich über Ihren ausgezeichneten Pumpen-Vergleich nachdenken – ich denke, Sie haben hellsichtig den Nerv der gesamten Metaphysik getroffen, jenes Problem, das meinen Onkel von den beleuchteten Balkonen in die kühle Wüste jagte. Die Langusten, die er so gerne aß, folgten ihm leise auf wackeligen Beinchen – Sie hatten es bereits geahnt –, die traurige Prozession schlängelte sich auf engem Pfad durch das Gartengestrüpp; bei der verwitterten, mit Efeu überwucherten Mauer verloren wir sie aus den Augen. Was können wir schon tun, wir werden geduldig die kühlen Konserven an unsere Ohren halten, werden schweigend lange Spaghetti verschlingen, die etwas schleimig sind und schwach im Mondschein schimmern, ohne zu wissen, wo sie eigentlich enden. Im Übrigen geschah das bereits vor siebzig Jahren in Bad Ischl. Die Geschichte mit dem Geisterfernseher ist teils komisch, teils schauerlich, mir ist nur nicht ganz klar, wer der ›Fan‹ sein soll – ist es nicht der blasse logische Neopositivist, dessen Schwester, ein Medium, im Bistro einen Kompressor materialisierte? Ich erinnere mich, wie sie uns ein tolles Spiel beibrachte, nach dem manche dem Wahnsinn verfielen, andere erkrankten und starben. Vieles, was wir in der Zeit der Zitronenscheiben und der transzendentalen Strände erlebten, reifte zwischenzeitlich im Dunkeln unter der Treppe heran und rollt nun langsam über die Vinohradská auf uns zu, gerade an der Briefmarkenhandlung vorbei, wo in einem geschlossenen Album, bis dahin unbemerkt, jene blaue Inselbriefmarke ruht, auf der unsere Windhunde eingraviert sind, die uns schließlich verleugneten und bissen. Das war, denke ich, auf dem berühmten Luftschiff Laetitia. Falls Sie zu der Erkenntnis gekommen sind, dass diese kleine Briefmarke mehr verrät, als man zugeben möchte, behaupte ich, dass ich den ausgetüftelten Plan, der wahrscheinlich in diesem Augenblick in Ihrem Hirn entsteht, weder gutheiße noch verurteile, alles spricht jedoch dafür, dass ich ein beträchtliches Maß an Verständnis für gewisse notwendige Vorkehrungen aufbringen werde, die nur zwei Personen in dieser Stadt bekannt sind und denen für den nicht Eingeweihten ein etwas makabrer Beigeschmack anhaften mag – weil aus dem Netz strenger Zusammenhänge gerissen. Ich schicke Ihnen tausend Grüße und meine Gattin ebenso, wir erwarten ungeduldig Ihren nächsten Brief.« Darunter stand eine unleserliche Unterschrift. Ich gehe den Brief immer wieder durch und kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer ihn geschrieben haben mag, und verstehe auch nicht, worum es eigentlich geht. Dabei muss ich ihn bereits gelesen haben, denn an einer Stelle steht am Rand »Nieren!!!« in meiner Handschrift (ein Symbol oder geheimes Kennwort)? Vielleicht bezieht sich der Brief auf die Zeit, als ich mit Freunden in den Gartenrestaurants in Braník, Zbraslav und Chuchle auf der Betonbühne eine allegorische Pantomime der zwölf Kantschen Kategorien aufführte. Viele lehrreiche Bilder sind mir aus dieser fröhlichen Zeit noch in Erinnerung, doch ich muss diesen Text unbedingt irgendwie zu Ende bringen, weil sich die Federspitze unaufhaltsam dem unteren Seitenrand nähert, wie das Ufer eines trüben Meeres rückt die schmutzig grüne Tischplatte im Lesesaal der Universitätsbibliothek, wo ich diese Zeilen schreibe, immer näher, ich sehe eine verblasste Aufschrift »Remember!« neben einem eingetrockneten Blutfleck, letzte Spuren seltsamer und bislang ungeklärter Ereignisse, die vor zwölf Jahren hier stattfanden und über die ich einen achthundert Seiten langen Schauerroman schreiben könnte (vielleicht haben Sie mal vom Fall des kriechenden Buches gehört), der Platz zum Schreiben wird immer begrenzter, ich muss die Buchstaben klein halten und die Wörter wie eine Ziehharmonika zusammenquetschen, wie schade, ich wollte doch noch so viel über meine Pilgerfahrt zum Malachitpalast erzählen, vom Abstieg über die Marmortreppe, die von weißen Hirschstatuen gesäumt wird und in einen warmen, süßlich riechenden, violetten Brei führt, über das unerwartete Treffen im Kleiderschrank, über den Kampf mit fünf Ninjas auf dem Dach des Nationaltheaters, über das weinerliche Ungeheuer im Abteil eines Zuges, der durch eine Schneelandschaft fährt, darüber, wer eigentlich der Käfer auf der Kaninchenbroschüre war, was die Broschüre darstellte und wer die Kaninchen waren, aber in den schrumpfenden Streifen passt nichts mehr hinein, ich könnte höchstens unter dem Papierrand weiterschreiben und den Schluss der Erzählung auf die Tischplatte kritzeln, ich würde Ihnen mitteilen, um welchen Tisch es sich handelt und Sie könnten dann dorthin gehen und die Geschichte zu Ende lesen, doch mir ist klar, dass bei der Gelegenheit erstens jemand anfangen könnte, sich für die verschiedenen Chiffren zu interessieren, die jemand mit Kugelschreiber in die Tischplatten geritzt hat, was außergalaktische Top-Secret-Verbindungen verraten könnte, zweitens stehen die Tische sowieso jeden Tag woanders – sie werden nämlich jeden Abend entfernt, weil sich der Allgemeine Lesesaal über Nacht in eine Eisbahn verwandelt. So untersuche ich die Bilder, die aus der Feder fließen, und überlege, mit welchem ich diese Schauergeschichte am besten beenden könnte, aber keines passt, es wird wohl daran liegen, dass unsere Vorstellungen vom Ende falsch sind, wir schneiden die Handlung in abgeschlossene Teilhandlungen zurecht, um sie im Kopf übersichtlich lagern zu können wie Holzscheite im Schuppen, doch ein Ereignis ist genauso wenig ein Ende wie es Anfang oder Mittelteil ist, »Geburt gibt es von keinem einzigen unter allen sterblichen Dingen, auch nicht ein Ende im verwünschten Tode, sondern nur Mischung und Austausch der gemischten Stoffe«, sagt Empedokles; wenn ich könnte, würde ich das beschriftete Blatt Papier zu einem Möbiusband zusammenkleben, dann hätte die Prosa weder Anfang noch Ende, jetzt würde es sogar gut passen, weil ich im Text in den gleichen Raum gelangt bin, in dem ich mich am Anfang aufgehalten habe, nämlich in den Lesesaal der Universitätsbibliothek – ja schlussendlich, warum sollte es eigentlich nicht gehen? Wenn Sie vor einer Weile bereit waren, nur darum in die Universitätsbibliothek zu kommen, weil Sie das Ende der Geschichte auf der Tischplatte lesen wollten, wird es Ihnen bestimmt nicht schwerfallen, den Text entsprechend zusammenzukleben. Haben Sie von der Ur-Schlange Uroboros gehört, die sich in den eigenen Schwanz beißt? Also: Endlich habe ich gefunden, wonach ich schon seit Jahren suchte: den Hinweis, wo jener Geheimgang beginnt, der zum Malachitpalast am Ufer des unterirdischen Flusses führt – dorthin war ich vor zwanzig Jahren zu einem Fest eingeladen gewesen …
(Aus: Die Rückkehr des alten Waran. Wieser Verlag, 2019)