Ein Gedichtband braucht auch etwas Glück. Kritiker schlagen ein Buch auf, und dann steht da ein Gedicht, das zum jeweiligen Kopf passt. Falls nicht, sieht es meist schlecht aus fürs Buch. Wird das Buch dann als hohl bezeichnet, liegt das, frei nach Lichtenberg, meist nicht am Buch. »Vielleicht schreibe ich demnächst ein Buch / Mit dem Titel Verlag macht Insolvenz / Wer zahlt und was steckt dahinter«, heißt es bei Slata Roschal, Jahrgang 1992, gebürtig aus Sankt Petersburg, aufgewachsen in Schwerin, einer mittlerweile in München lebenden Slawistin, gut vernetzten Literaturaktivistin und gefeierten Romanautorin. Roschal zeigt mit ihren jüngst vorgelegten, säuerlich-komischen Gedichten eine gewisse Schubladen-Allergie. Der barockisierende und für den Zeitgeschmack zu lange Titel ihres eben erschienenen Gedichtbands »Ich brauche einen Waffenschein / ein neues bitteres Parfüm / und ein Haus in dem mich keiner kennt« gibt einen ersten Hinweis auf ihr ausgeprägtes Sezessionsbedürfnis.
Da ist es fast beruhigend, dass die sattsam bekannte Tendenz auszumachen ist, Orte von Aufenthaltsstipendien zu Titel- und Motivspendern zu adeln; vor ein paar Jahren wurde hinter vorgehaltener Hand gar über ›Stipendienlyrik‹ gespottet. Diesen Spott macht Slata Roschal ausgehfein, staffiert ihr eigenes Aufenthaltsstipendiatinnen-Dasein zum Stilprinzip aus, mit dem sich konservative wie linke Spießbürger prima ärgern lassen: »Ich sitze in Nancy auf einem roten Sessel in einem / Grauen Schlafzimmer und betrinke mich«. Roschal notiert, stets en passant, prekäre Lebensumstände heutiger Kunstmenschen mit. Angesichts der Kettensägen-Massaker an der Kultur allerorten ist es hohe Zeit, dass poetische Sprachkunst sich dem Zeitdokumentarischen und Faktografischen verschreibt: »Von der Besuchsstatistik meiner Website / Leiten sich Jurysitzungen und Rezensionen ab […] Ich weiß von einem Schauspieler der aus Versehen im Theater / In der Preysingerstraße eingeschlossen wurde und an Unterkühlung starb«.
Die galligen Poeme speisen sich nicht selten aus der Werbesprache. Kein Novum. So ist schon die Bachmann in »Reklame« verfahren. Innovativer ist da schon, dass Roschal den phrasenförmigen Sprachdreck (»Nimm dein Glück in die Hand / Lotto«) unmittelbar ins Gedicht aufnimmt: »Absurd wie Kinderschokolade oder weiße Wintermäntel / Hier bin ich Mensch hier kauf ich ein / Ich träume manchmal von Toiletten im Gemeindehaus«. Slata Roschal präsentiert ihre brachialen Mashups mit dem gleichen détachment, mit dem z. B. auch Kendrick Lamar im Clip zu »squabble up« ein Buch hochhält, um weiße Dichterallüren zu dissen: »Mit ein wenig Schwarmintelligenz lässt sich / Hinwegsehen darüber dass wir matt und nutzlos sind / Wie im Selbstverlag erschienene Gedichte«. In der Gegenwartslyrik ebenfalls nicht solitär, in dieser Häufigkeit aber auffällig, sind die Anleihen bei populären TV-Serien- und Streamingformaten, dem misogynen Nerdgequassel von »Big Bang Theory« oder den Lookismusorgien von Heidi Klum. Anders als im durchschnittlichen Lyrikband, wo es von Widmungen meist nur so wimmelt, überwiegt hier programmatisch forsche Selbstbehauptung: »In jedem gut sortierten Buchladen ist kein Buch / Von mir erhältlich und ich bin ein Mensch / Auch wenn ich keine Menschen und Gewässer / Im Umkreis von drei Meter sechzig um mich mag«.
Kann sein, dass alles schon mal geschrieben wurde, wie es in einem anderen Gedicht heißt, aber selten in diesem ausdauernd angewiderten Parlando. Trägt dieser Ekel? Aber hallo! »Lyriker sind professionelle Obdachlose und Piraten die / Billige Hotels und Pensionen in Leipzig stürmen«. In der Maske des Dandys (»Woher hat Wilde die grünen Nelken«) entstellt Roschal die Verrohung unserer Zeit bis zur Kenntlichkeit. Das macht einen gewissen Sekundärnihilismus als Nebenwirkung wohl unvermeidbar: »Wären unsere Eltern vermögender hätten wir mehr Kinder / Wären unsere Eltern vermögender hätten sie uns nicht bekommen«. Kollegen mit vergleichbar genialischem Verätzungspotential, Mara Genschel etwa und Léonce Lupette oder Walter Fabian Schmid, sind auf kleinere Editionen verwiesen. Weiß der Betrieb, wie sonst nur der sprichwörtliche Geier, warum … Insofern sind die bald auch als Lyrikerin ubiquitäre Slata Roschal und ihr neuer Verlag, der altehrwürdige Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, gleichermaßen zu beglückwünschen, unverhofft zueinander gefunden zu haben. Mit etwas Glück für Buch und Kopf schlägt man die dritte Gedichtsammlung Roschals an der richtigen Stelle auf, etwa hier: »Die ersten zwanzig Jahre war ich zart, geduldig und still. Jetzt / mit dreißig reicht der kleinste Anlass, eine Postangestellte, / die ihren Kunden duzt, weil er kein Deutsch spricht, ein Ver- / mieter, der Hundehaltung ausschließt und zur Besichtigung / mit seinem Hund kommt […] und ich beginne zu keuchen, zu schäumen«. Trüge der Gedichtband einen weniger auf Effekt zielenden, mehr auf die darin vorherrschenden Themenlagen hin ausgerichteten Titel, würde der vielleicht lauten: ›Künstlerbedarf‹.
Slata Roschal: »Ich brauche einen Waffenschein / ein neues bitteres Parfüm / ein Haus in dem mich keiner kennt«, Gedichte, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2025, 121 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3884237267.