Miklós. Eine Liebesgeschichte
Julia Veihelmann
[Auszug]

Miklós stand vor dem Fensterkreuz, seinen Arm hatte sich seine Freundin um die Schulter drapiert wie eine Stola – ich glaube, es war die kleine Braunhaarige, auch eine Europäerin, eine Pressefrau oder so, die, wenn sie betrunken war, anfing, ihre sexuellen Vorlieben aufzufächern wie ein Kartenblatt –, da standen also die beiden vor dem Fenster, hinter dem die Stadt im Smog verschwamm. Hörte man die Pressefrau das erste Mal in betrunkenem Zustand sprechen, war es eine Absonderlichkeit, die einen freute, es schien anarchistisch; beim zweiten Mal wirkte es wie eine Masche, und auch wenn dieser Eindruck sich später wieder verlor, ging es einem auf die Nerven. Es war einfach nur ein Zwang, wie jeder mindestens einen hat. Ich sah zu, wie Miklós ihr den Drink aus der Hand nahm und auf das Klavier stellte – ja, da war ein Klavier, vom vorherigen Bewohner übernommen, der Kinder gehabt haben musste (die Kinder der Oberschicht lernten alle Klavier, und die Wohnung war so groß, dass nichts anderes als Oberschicht darin gewohnt haben konnte, auch wenn der Wolkenkratzer mir nicht vornehm schien) – und sich dann vorbeugte, um sie zu küssen, um das Entwenden des Drinks zu rechtfertigen. Da wir uns im 23. Stock befanden und die Fahrstuhlkabine zu eng war für das Klavier, musste ich oft, wenn ich es ansah, an den Bau der Pyramiden und den der Großen Mauer denken. Ich hatte auch Klavierstunden gehabt und später alles verlernt, auf Miklós traf beides nicht zu. Seine Hand lag nun auf dem Po seiner Freundin. Er gab eine Party an diesem Abend, was in jener Zeit der Alltag war; ich wachte jeweils am späten Vormittag auf mit verklebter Lunge, Augen, die sich nicht öffnen wollten, und dachte mit Unlust daran, dass auch heute wieder gefeiert würde. Es war wie in der Geschichte, ich habe vergessen, wer sie geschrieben hat, in der jeden Tag Weihnachten ist: nichts als Überdruss. Woher kamen die ganzen Leute, die bei diesen Partys auftauchten? Es waren immer Leute da, Einheimische, Verlorene, die sich dank ihrer Pässe Expats nannten (als Migranten hätte dieses Völkchen keine Chance gehabt, im Land bleiben zu dürfen), Schwule aus Chengdu, Leute vom Konsulat, taiwanesische Künstlerinnen mit messerscharfen Haarschnitten. Ich werde nicht hingehen, sagte ich mir am Vormittag, während ich mir den bitteren, unaromatischen Kaffee aus Yunnan aufbrühte (ich trank ihn aus einem Wunsch, chinesischer Patriot zu werden, oder vielmehr hätte ich mich nicht entblödet, das auf Nachfrage so zu sagen; aber es fragte ja auch keiner, es kam ja auch nie einer in meine Bleibe). Ich werde nicht hingehen. Meine Bleibe, das war ein quadratisches, nicht allzu großes Zimmer, auf der linken Seite mit einem offenen Durchgang zu einer Kochecke, zur Straße hin gab es einen überdachten Balkon und dann rechts noch eine Kammer, kaum größer als die Matratze, die darin auf etwas Schaumgummi lag. Ich setzte mich vor den Laptop mit Blick auf den Balkon, klappte den Bildschirm hoch, öffnete meine Programme, zündete, wenn eine zur Hand war, eine Zigarette an (ich rauchte nicht, aber es versetzte mich in Arbeitsstimmung, einen Zug zu nehmen und den Rauch zu schnuppern und sie dann gleich wieder auszudrücken). Deep, deep in the Caribbean, lockten mich die Computerspiele aus dem letzten Jahrtausend, mit verheißungsvoller Musik und verpixelter Animation. Ich hatte einen Ohrwurm: To the far, far out. Manchmal ließ ich mich locken, und die Arbeitsdateien im Hintergrund blieben leer. Ich spielte Heart of China, weil es so alt und exotisch war, die Zeit, aus der es stammte, war jetzt um so vieles exotischer, als hier in Guangzhou zu sein. Und es lockten mich auch die Avatare in den Internetforen, die mir bisweilen wie Gestalten aus diesen Abenteuerspielen vorkamen, es lockte mich, sie zum Antworten zu bringen, aber ich widerstand letztlich meist doch den Verlockungen und machte mich direkt ans Übersetzen, denn wenn ich den Verlockungen nicht widerstand oder mich gar im Zwiebelnetz verlor, an Türen klopfend um Einlass bittend, wo man nicht reinkam, und dann plötzlich doch in einem Chatroom für Nekrophile gelandet, wo die Schönheit von zwei Wochen alten Leichen besungen wurde, dann konnte ich es auch gleich aufgeben, meinen Lebensunterhalt bestreiten zu wollen. (Zwei Wochen alt: Das gefiel mir ausnehmend gut, als Formulierung. Nach dem Tod begann ein zweites Leben.) (So kann es aber eigentlich nicht gewesen sein. Ich kann damals noch gar nicht im Zwiebelnetz unterwegs gewesen sein, denn ich erinnere mich, wer mir das beibrachte, und den traf ich erst später.) Ich geh da nicht mehr hin, dachte ich tagsüber, ich kann mir doch die aktiven Tagesstunden nicht derart beschneiden lassen. Bis ich in die Gänge komme, dachte ich düster (das Leben verwirkt; maledetto sia il giorno che sono nata), ist es immer schon Mittag. Und später muss man dann essen – ich ging in eine Garküche, aß eine Schale Nudelsuppe mit Frühlingszwiebeln, viel Chili und einem fransigen Spiegelei, das auf der Oberfläche trieb, trank dann an einem Straßenstand warme Sojamilch aus einem Pappbecher – und sich anschließend erneut wieder zur Arbeit zwingen mit Anlauf, und bis es dann Abend ist, habe ich nichts geschafft. Als es Abend war, musste ich kaum noch etwas nachschlagen, und mir fielen intuitiv geeignete Entsprechungen für alle bildhaften Adverbialkonstruktionen und chengyu ein, die Sätze flossen und rankten sich, leicht und tänzerisch, über den Monitor, und sie stimmten mehr oder weniger (es schien nicht mehr so sehr auf Exaktheit anzukommen als auf ein wie man ja sagt funktionales Äquivalent), und ich hatte Lust auf die Party bekommen, mir in der Kochnische meinen ersten Drink gemacht (wir waren damals noch alle Trinker), Baijiu mit Orangensaft, und obwohl ich um den Katzenjammer wusste, der folgen würde, ging ich dann doch wieder, wie jeden Abend, zur Metro hinunter. – Meine Kalendereinträge stimmen damit gar nicht überein, aber so ist es mir im Gedächtnis geblieben.

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