Weil heute nichts ohne Zuhilfenahme eines Superlativs abgeht, wirkt die russische Invasion in der Ukraine bisweilen wie die erste kriegerische Auseinandersetzung in Europa seit dem 2. Weltkrieg. Erstaunlich wenige erinnern sich, dass bereits die 1990er Jahre von Krieg geprägt waren, bedingt durch den Zerfall Jugoslawiens. Wie in der Ukraine war die EU auch damals übrigens nicht in der Lage, den Konflikt ohne die USA zu lösen. Einer der Jugoslawienkriege war 1992 bis 1995 der sogenannte Bosnienkrieg in Bosnien und Herzegowina, der allein 100.000 Menschenleben kostete.
Der bosnische Autor Faruk Šehić (geboren 1970) bringt diesen Krieg jetzt zurück in unser Bewusstsein. Und er tut es als einer, der damals mitgekämpft hat: »Leute, ich muss gestehen, ich habe einen Menschen getötet.« Seine Erzählung spielt vor allem in Bosanska Krupa, der am drittmeisten zerstörten Stadt in Bosnien, »Sterben ist dein am weitesten entwickelter Industriezweig« und die »Zerrüttung wirkte wie der ganz natürliche Zustand der Stadt«.
Und der Text handelt auch immer wieder von der Una, dem Grenzfluss zwischen Bosnien und Kroatien. »Von der Una« ist ein Roman über die Schwierigkeiten des Erinnerns: »Die Erinnerungen sind derart schlimm, dass sie sich selbst verunmöglichen. Was immer mir einfällt, drängt mich, schleunigst wieder mit dem Zurückgehen in der Erzählung aufzuhören.« Und so handeln weite Teile des Textes von Natur, von Fischen, vom Fluss: »Die Una, dieses flüssige bewegliche Vergessen.« Natur und Krieg sind ineinander gewoben. »Die Fische sind mit ihren eigenen Wundern beschäftigt, die Spuren von Artilleriefeuer zur Mittagszeit dringen nicht bis zu ihnen durch. Naturgewalten sind gegenüber Kriegshandlungen unempfindlich. Ein Baum bricht entzwei, wenn er von einer Panzergranate getroffen wird, ihm fehlen die Worte, um sich zu beschweren.«
Bemerkenswert sind – trotz des anfänglichen Geständnisses – die Aussparungen und Leerstellen, das, worüber nicht gesprochen wird. Was geschieht mit Gefangenen? Wohin ist die Oma des Autors verschwunden? Auch von den Geschehnissen während der Rückeroberung kein Wort, von Racheakten womöglich. Faruk Šehićs Erinnern ist ein ausgesprochen poetisches, so traumgleich wie traumatisch. Schreiben als Vergangenheitsbewältigung und Therapie, denn »Worte stehen über der Vernichtung. Wenn du sie löschst, liegen sie dir sofort wieder auf der Zunge.« Diese Poesie ist atemberaubend. Da ist die Rede von einer »Einsamkeit, die uns bis in die Pupillen kroch«, von Ruinen als »von schwarzen Mauern umstellte Luft« mit »Fassaden, die aussahen, als hätte sie jemand aus einem riesigen Mund mit Scherben bespuckt«; von Bombardements (»Es regnete Mörsergranaten wie Blumensträuße.«) oder – ja, auch – von Kriegsverbrechen (»Massengräber sind wie ein Refrain.«)
Und doch, trotz des Schmerzes und des Sich-Windens: »Schreiben heißt sprechen, Reden vor unsichtbarem Publikum halten, dies ist mein eigenes kleines Rednerpult. Ich sehe keine andere Art, um für das Recht auf Erinnerung zu kämpfen.« Šehić schreibt und spricht aufgrund einer unbändigen Sehnsucht auf Heilung. Denn das ist sein Ziel: »Ich möchte heil sein.« Man wünscht es dem Autor und ahnt doch beim Lesen, dass es in diesem Leben nicht mehr möglich sein wird.
Faruk Šehić: »Von der Una«, aus dem Bosnischen von Elvira Veselinović, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2025, 240 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3863914295.