UR-POP
Zsuzsanna Gahse

Sobald der Vorhang wieder zur Seite gezogen wird, wird eine ziegelrote Wand sichtbar, und vor dieser Wand zeichnet sich allmählich ein Mann ab, der in seinen Schuhen mit hohen Blockabsätzen besonders groß wirkt, er steht allein auf der Bühne, ziegelrot gekleidet, mit roten Haaren, alles Rot in Rot, deshalb zunächst kaum konkret wahrnehmbar.

Hopp, sagt er und stellt sich vor. Samson, er sei Samson. Dann dreht er sich langsam um die eigene Achse, hebt dabei seine schweren, verfilzten Haare an, ein Buschwerk ist diese Haarpracht, die verfilzten Locken eines Nichtnegroiden, könnte man meinen. Aus einem neidischen Anfall heraus hat er eine Frisur, als sei er ein rothaariger Schwarzer, aber besser, ich rede nicht von Neid, er trägt die Haare, wie er sie trägt. Wäre er ein Schwarzer, müsste die Wand im Hintergrund ebenfalls schwarz sein. Hopp, sagt er wieder, und kühn dreht er sich weiter, zeigt sich von allen Seiten. In seinem fellartigen Mantel erinnert er an einen Trapper, an einen Mountain Man, einen Fallensteller, jedenfalls will er an jemanden erinnern, am liebsten an mehrere Personen. Dann bleibt er stehen und hebt mit beiden Händen die Haarpracht vom Kopf, eine Perücke, er steckt sie in die Manteltasche, und mit dem nun blanken Schädel scheint er tatsächlich den geschorenen Samson darzustellen. Den entmachteten Samson oder sonst einen Entmachteten, Ausgelieferten, einen melancholischen jungen Mann, denn merkwürdigerweise nimmt sich sein Gesicht ohne zottiges Ding auf dem Kopf jünger aus. Kein Skinhead, schon von der Miene her nicht. Ein schwermütiger Jüngling, der leise zu summen beginnt. Hey jude, don’t be afraid, singt er und dann etwas lauter birds, birds, mit birdiger Stimme. Er hat rote Fingernägel, das fällt jetzt erst auf, während er sich ein Stirnband über den Kopf zieht und einige bunte Vogelfedern hinter das Band steckt.

Sicher will er nicht eine bestimmte Person verkörpern, auch wenn einem die meisten Mimen Charakterfiguren vorspielen, die man, ob man will oder nicht, nachzuahmen versucht. Er aber fordert nicht zum Nachspielen heraus, sondern zum Hinschauen. Seine Nägel, die Haare, die Federn und die kahle Haut sprechen von der Vielfalt und der möglichen Schönheit der unterschiedlichsten Keratin-Kreationen, von diesem wandelbaren körpereigenen Stoff, mit dem jeder beliebig umgehen kann. Im Mittelpunkt steht die Macht der Haare, der Krallen, die Hochachtung dem Keratin gegenüber, das im eigenen Leib steckt, und jede Keratin-Offenbarung hat eine eigene Schönheit, deren Sinn Fremde nicht auf Anhieb verstehen müssen. Sie steht für die Selbststilisierung.

Als Vogel schwingt sich der melancholische Mann über Samson und andere bedeutende Köpfe hinweg bis weit zu den Sauriern hinüber, zu deren Schuppenbildung und Stacheln, zu ihren spärlichen Federn, die sie als erste zu entwickeln wussten, diese ersten Pop-Gestalten, oder womöglich waren sie gar nicht die Ersten, die mit der eigenen Körperhülle zu spielen wussten. Sei’s drum. Die Saurier, die als krächzende Wesen dargestellt werden, hatten außer der eigenen Haut längst die eigene Stimme entdeckt, sie riefen birds, birds, genossen die eigenen Laute, die sie, falls sie als Saurier aussterben sollten, als Vögel weiterentwickeln könnten, nur sind ihre Laute noch unerforscht und bestenfalls anhand der Vogelstimmen nachvollziehbar. Wie auch immer. Der Mensch mit seiner Haarpracht auf dem Kopf und seiner sonstigen Nacktheit ist die Krönung aller Keratinschöpfungen, und er lebt mit dem neuesten Pop, er ist der Ur-Pop, überlege ich, während sich der Versonnene auf der Bühne die Fingernägel schneidet.

Kommt ein Vogel geflogen, singt er und verbrennt die abgeschnittenen Nägel. Wie riecht es, wenn die abgeschnittenen Nägel verbrennen, wenn er einzelne Haare verbrennt.

Auch Krallen kann man anbrennen, Zähne absägen und dabei Feinteile versengen. Wie das riecht! Wie Zähne riechen! Gibt es auch die Popwelt der Zähne? Samson und die Zähne, und Zahn um Zahn. Von jetzt an können alle die Zähne zeigen.

Der versonnene Samson führt vor, was alles mit Keratin zusammenhängt, mit dem Kreativ-Material, mit dem jeder beliebig Federn, Nägel oder Haare zur Schau tragen kann, ein Schauspiel.