Die Ballett-Tänzerinnen [Auszug]
Miřenka Čechová

TANZSTUNDE UND TRÄUME

Und eins, und zwei, und drei, und vier. Wie wild hämmert unser Korrepetitor in den schwarzen Petrof-Flügel und es ist ihm vollkommen egal, dass du gerade deine Seele und mit ihr jeden Millimeter deines Körpers verkaufst. Du präsentierst sie dem abwesenden Blick der Meisterin, öffnest deine Schutzhülle, lässt Dämonen hinein und wirfst deinen Verstand über Bord.

Er spielt immer dieselben Schnulzen, als wärt ihr dressierte Äffchen, und es ist ihm egal, welches Motiv er zitiert. Ob wie jetzt gerade eins aus dem zweiten Aufzug von Tschaikowskis Dornröschen oder gleich darauf eins aus Giselle. Ihr alle seid schlafende Prinzessinnen, um acht Uhr morgens, angetreten in Einheitskleidern, Einheitsstrumpfhosen, Einheitsschläppchen, Einheitshaarknoten, Einheitslächeln, Einheitsschicksalen von zukünftigen Losern, einheitsdeprimierte arme Seelchen, die sich für den Rest ihres Lebens damit abmühen werden, sich selbst als vollwertige Menschen zu betrachten.

Giselle ist unglücklich verliebt, sie wird wahnsinnig und stirbt, wird zu einer Fee, die nachts Menschen in den Tod tanzt. Und fünf, und sechs, und sieben, und acht. Weiße wallende Kleider, in denen sie aussieht, als würde sie schweben. Sie dreht sich im Kreis wie ein Medium, wie das Schirmchen einer Pusteblume. Du wirst tanzen bis du stirbst, du opferst dich für die Liebe. Pause.

Demi-plié. Erste, zweite, vierte, fünfte Position, Gleitschritt, Vorbeuge, Rückbeuge, Attitude auf halber Spitze, halten, dann die Stange loslassen, Balance ! Nicht umfallen. Konzentrier dich ! Halten ! Hinteres Knie höher hinauf, den Fußrücken nach außen drehen, alles muss in einer Linie sein, die Schulterblätter zusammen, die halbe Spitze höher, die Wade ja nicht verkrampfen ! »Lächeln Nummer zwölf«, fügt die Professorin hinzu, als sie sieht, dass ihr alle rot angelaufen seid, denn in dieser Haltung auf einem Bein, auf der Fußspitze, das zweite Bein hoch nach hinten in die Luft gestreckt, tut euch alles weh. So verharrt ihr schon zwei Minuten, ihr zittert, eure Halsadern schwellen an, die Zähne zusammengebissen, der Rücken verkrampft, bis eine von euch es nicht mehr aushält und eine Hand auf die Stange legt. »Habe ich etwa gesagt, dass ihr euch abstützen sollt ?«, brüllt die Professorin.

Inzwischen sind auch eure Stirnadern angeschwollen und eure Schläfen pochen. Du bist Giselle, hast dich unglücklich verliebt und stirbst. Drehung und Battement tendu, die alte Kombination von gestern. Viermal vor, zwei Triolen, im Plié beenden, dasselbe zur Seite, rückwärts und wieder zur Seite. Warum zweimal zur Seite ? Deine Fußsohle ist ein Bügeleisen, du bügelst dein Hochzeitskleid. Das Plié drückst du nach unten, als wolltest du dich in dein schlecht ausgehobenes Grab werfen, du beugst dich vor, als würdest du das Bewusstsein verlieren und dem Wahnsinn verfallen, als würdest du den letzten Funken Leben aus deinem Körper holen.

Schau zu, dass du stabil bleibst ! Und dann Cloche, Cloche, Cloche. Du bist ein Clochard, ein Obdachloser, ein Lappen, ein fahles Bündel ohne Energie. Schönheit, die leidet. Du hältst alles aus, der weiße Akt bei Giselle ist der schönste, auch bei Schwanensee. Der Auftritt der Feen, aller Jungfrauen, die vor der Hochzeit sterben mussten, in weißen, langen, durchsichtigen Schleiern. Der Revuevorhang ist heruntergelassen, du siehst sie in weißem Rauch. Es sind imaginäre Wesen, wie ein leichter Wind, wie gerupfte Schwanenfedern, ihre Schrittchen sind lautlos, denn sie haben keinen Kontakt zum Boden. Myrtha ist die Königin. Die Feenkönigin. Rond de jambe par terre. Alles dreht sich im Kreis, alles wird hundertmal wiederholt, ein täglicher Kreislauf, jeden Tag dasselbe. Ronde de jambe en l’air.

Beim Kreisen das Bein nur unterhalb des Knies bewegen, in der zweiten Position wird deine Hand ganz steif, weil du sie in der Luft abstützten möchtest, mit dem Bein in die andere Richtung kreisen, alles hundertmal, tausendmal. Mechanische Bewegungen, wie ein Mixer, ist das zäher Pudding, oder doch Pariser Pâté? Battement frappé. Du klopfst das Fleisch deiner knochigen Waden. Flex und zurück, als würde sich Charlie Chaplin nach dem Fahrradfahren die Hose reinigen. Diesen Ölfleck wirst du in den zwanzig Jahren deiner Karriere einfach nicht los. Mit zehn beginnst du, mit dreißig hörst du auf. Wie viel Zeit bleibt dir noch ? Diese weißen Heldinnen opfern sich immer für die Liebe. Und leiden dann darunter. Sie leiden gern und oft, immer für einen Mann, nie wegen eigener Ambitionen oder zum eigenen Vorteil. Wunderbare Opfer sind das, graziös sterben sie, zart, einen sinnvollen Tod, immer mit Musik, grandios, und bei tosendem Applaus. Jetzt kommt das Adagio. Höhepunkt der Eleganz, Schwierigkeitsstufe Nummer zehn. Jetzt noch eine Besserungsanstalt, ein Märtyrerrad inmitten der Wüste, ein Pferdefuhrwerk voller Gold, das nicht von Pferden, sondern von dir gezogen wird. Giselle ist längst tot.

[…]

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck.
Auszug aus dem Roman »Ballett-Tänzerinnen«, erschienen bei Paseka, Prag 2020.