Tsurky-Hilky
Ganna Kostenko

Wohnung Nr. 9

hatte nach dem Tod des betrunkenen Rumänen kurz erleichtert aufgeatmet und auf ein ruhiges Alter gehofft. Ihr war klar, dass Ratten nun an ihr fressen und die klebrigen Klauen von Kakerlaken nachts die Sockel ihrer Wände kitzeln würden.Die Wohnung wusste kaum etwas über ihre Kindheit, denn es war eine Zeit, in der die Vergangenheit vor allzu neugierigen Blicken versteckt wurde. Die Erinnerung war ein gefährlicher Feind für jeden, der hier einzog. Sie lag in der Küche in Fässern und Kesseln, war im Hof vergraben, in der Latrine versteckt oder im Keller unter Wohnung Nr. 4, wo jetzt Onkel Mitja lebte. Diese Erinnerung war nicht totzukriegen, die konnte man nicht einfach auslöschen. Stures Miststück! Es hatte Zeiten gegeben, da war Wohnung Nr.9 unter dem Vorwand einer Rundumerneuerung gehörig verdroschen worden. Ihre Vergangenheit (wie auch die des ganzen Hauses), barg eine gewaltige Kraft, doch welche genau, das wusste keiner. Wohnung Nr.9 spürte, dass sie unter all ihren Schwestern die unglücklichste war. Irgendwo in der Tiefe ihres verrottenden Parkettbodens war ihr klar, dass sie eigentlich gar keine Wohnung war, sondern ein Teil von etwas Größerem, einer ihr unbekannten Geschichte mit Helden, deren Namen steinschwer in verstaubten Zwischengeschossen lagerten. Sie sah auf die Wand, die den Marmorkamin in zwei Hälften schnitt und die (so schien es ihr) sie von der echten Welt trennte, die zivilisiert und warm war, und da fühlte sie sich schrecklich ratlos und einsam. Und eigentlich wäre sie doch froh gewesen um den Rumänen und seine betrunkenen Eskapaden. Aber der Rumäne war tot und die Ratten fraßen die letzten faulen Zähne, die unter dem knarrenden Boden versteckt lagen, fraßen das Letzte, das noch die Vergangenheit kannte.

Und eines Frühlingsmorgens wurde mit roher Gewalt die Eingangstür aufgerissen. Die Ärmste schaffte es nicht einmal, ihre Kakerlaken vor den Eindringlingen in Sicherheit zu bringen. Nackt und ratlos, inmitten ihrer bloßliegenden Eingeweide, empfand sie Scham.

»Stinkt hier…«, die Stimme gefiel ihr nicht. Sie erinnerte an jemanden.

»Regeln wir alles«, antwortete ein anderer, mit behaarten Armen und einem silbernen Zahn in der Mitte der oberen Zahnreihe.

Und so geschah es auch. Innerhalb von zwei Monaten wurde aus der geschundenen Aristokratin mit Amnesie und einer alkoholschwangeren rumänischen Vergangenheit eine Wohnung im Empirestil (der hier so geschunden war wie die Aristokratin selbst) mit provenzalischen Elementen, einer Duschkabine, goldenen Vorhängen und einem roten Salonsofa mitten in der Küche. Nach ihrer Wiederauferstehung gab sich die Wohnung das Versprechen, dass sie ihre Geschichte künftig selbst schreiben würde. Sie glich einer echten Königin, die alle weiblichen Verwandten beneiden. Die Ratten und Kakerlaken wurden öffentlich hingerichtet (und eine Begnadigung wurde nicht in Betracht gezogen). Jetzt gab Wohnung Nr. 9 ihr Einverständnis, mit den neuen Hausherren bekannt gemacht zu werden. Festgezurrt in einem Korsett aus neuen Tapeten, wagte sie kaum zu atmen, damit kein Staubkorn auf ihre Schuhe fiel. Schließlich kam der Hausherr, um die Wohnung abzunehmen. Er sagte kein Wort, holte nur seinen Geldbeutel hervor und gab den behaarten Armen ein Geldbündel. Die Wohnung musterte ihren neuen Herrn, doch etwas Besonderes konnte sie an ihm nicht feststellen: ein gewöhnlicher Mann, blaue Krawatte, teurer Anzug, ein Bauch wie im 9. Schwangerschaftsmonat, zyanotische Lippen (weil zu wenig Sauerstoff), niedrige Stirn (weil zu wenig Hirn). Außerdem plagten ihn noch Sodbrennen und Potenzprobleme. Aber darum geht es hier nicht. Blaue Krawatte sprach mit niemandem, weil er die Bewohner dieses Hauses für Angehörige einer kritisch niedrigen sozialen Art hielt, mit denen man nicht zu plaudern brauchte (vielleicht fürchtete er aber auch, dass jemand ihn erkennen würde, denn seine Stimme – diejenige, die an jemanden erinnerte – wurde häufig von den Massenmedien in die Häuser getragen).

Nach einigen Tagen kam er wieder. Er wollte unbemerkt bleiben, doch die Aufmerksamkeit aller Bewohner richtete sich auf ihn, sogar die von Onkel Mitja, dem sonst nur rote Katzen auffielen. Ein großer schwarzer Hai kam ans Tor gerollt, im Schlepptau zwei ebenso schwarze Saugfische. Unter den wachsamen Blicken der Leibwächter, Typen aus den fernen Neunzigern, die wahrscheinlich noch gar nicht wussten, dass die Welt schon tief im 21. Jahrhundert steckte (aber was will man auch machen mit einer Stadt, die einfach nicht aus dem Schoß ihrer Mutter kommt; der Kopf ragt ins Heute, der Arsch klemmt in der Vergangenheit fest), wurde ein Mann aus dem Auto gehoben und schnell in die Wohnung Nr. 9 gebracht. Kurz darauf war ein rotes Leichentuch mit goldenen Stickereien darauf zu sehen. Darunter steckte ein Körper von der Schönheit einer Aphrodite, der Jugend eines Narziss und dem Gemächt eines Herkules. Leichentuch wurde Blauer Krawatte übergeben, der schon die Hosen ausgezogen hatte und in Seidenstrümpfen dastand. Zehn Minuten und ein paar Sekunden lang zitterte das Porzellan in Huljas Anrichte, zehneinhalb Minuten lang wünschte Fira, Fezja möge irgendwann einmal ordentlich verdienen an der Beerdigung dieses Aschenbachs lokaler Couleur.

»Nein, also eine Unverschämtheit ist das! Und womit liebt der den wohl so sehr, möcht ich mal wissen, dass der so viel Krach aus nichts macht! Ein großer Denker ist mir das!«, rief die arme Hulja und schlug mit dem Wischmopp gegen die Wand.

Fira dagegen rauchte in aller Seelenruhe ihre Zigarillos, denn sie wusste, von wem man sich besser fernhielt. Da, auf ihrem Territorium, wo man solchen Blauen Krawatten ganz unzeremoniell einfach ihren Platz wies, hätte sie den Mund aufgemacht. Aber hier und jetzt… Fira erwies sich als machtlos. Leute wie der hatten keinen Begriff davon, was es hieß, ehrlich zu leben, deshalb auch blieb ihr nur ein lautes »Tag zusammen!«. Und dieses »Tag zusammen!« drückte ihren ganzen Ekel aus und alles, was sie von diesen Menschen und ihren Orgien bei sich im Haus hielt.

Am Abend zeigte das Fernsehen ein Interview mit Blauer Krawatte. Er erwies sich als großer Politiker aus einer depressiven Region. Ich baue Kirchen, sprach er, helfe Kindern, meine saubere und kristallklare Hand hält Alten und Schwachen rohes Buchweizen hin und ich glaube, so sprach er, an die Familie als höchsten Wert, denn ohne die Traditionen, mit denen schon unsere Urgroßmütter und Urgroßväter groß geworden sind, gibt es keine Zukunft für unsere Jugend, denn eine starke Familie… (weiter kam irgendwelche Propaganda und wer wird mir dafür Geld bezahlen?).

Jeden Donnerstag wiederholte sich das Schauspiel: Drei Wagen, Blaue Krawatte, Firas »Taaag Zusaaaammen!«, Rotes Leichentuch, springendes Porzellan in der Anrichte, feuchtes Liebesstöhnen des einen, dem es wehtat, und des anderen, der das Spiel genoss. Hulja klopfte in der Küche nervös Fleisch, obwohl sie Vegetarianerin war.

Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, sogar an Schwule im Stockwerk drüber, die einem später im Fernsehen Vorträge über traditionelle Werte halten und vor laufenden Kameras die weißen Händchen von Patriarchen küssen, die bei jeder Sünde ganz genau wissen, was es kostet, sie zu erlassen. Auch das Gebäude gewöhnte sich an alles. Und sogar die unglückselige Wohnung Nr. 9, die aus Scham über ihre Wände noch lauter schrie, als Rotes Leichentuch. Bald bemerkte man die Liebhaber kaum noch. Zehneinhalb Minuten und das Fleisch ist gebraten, zehneinhalb Minuten und Onkel Mitja hat zwei Bürsten hergestellt, zehneinhalb Minuten und Fezja hat sich mit der ganzen Familie verkracht und wieder versöhnt. In zehneinhalb Minuten kann man alles Mögliche erledigen!

Dieser Donnerstag war keine Ausnahme. Die Wagen parkten beim offenen Tor. Zwei Bulldoggennilpferde spuckten den Hof voll – alles ok. Die Türen öffneten sich: Rotes Leichentuch rutschte von seinem Ledersitz in die Arme des einen Leibwächters, der andere half Blauer Krawatte mit der niedrigen Stirn und den zyanotischen Lippen beim Aussteigen. Fira sagte »Taaag zusaaaaammen!« und dann passierte es. Ein Schuss in den Kopf und aus war’s mit dem Seidensocken tragenden Vorkämpfer für die Familie als höchsten Wert. Ein Auge plumpste wie ein zerschlagenes Ei auf die Lacktreter eines der Leibwächter. Der Körper fiel zusammen, wie ein Sack des rohen Buchweizens, den man Wählern zu essen gab. Keiner sagte etwas. Die Bulldoggennilpferde begannen wild in die Luft zu schießen, doch ihren Boss hatte wahrscheinlich Amors Pfeil getötet, denn vom Killer fehlte jede Spur. Das Blut von Blauer Krawatte erwies sich als nicht gerade aristokratisch. Eine kränklich rosafarbene Flüssigkeit verschluckte die Spucke auf dem Asphalt. Rotes Leichentuch hüpfte neben der Leiche auf und nieder und verfluchte seine unglückliche Liebe. Die Bulldoggennilpferde handelten schnell (dafür hatte man sie ja auch eingestellt): den Toten wie auch seinen Geliebten schoben sie auf den Rücksitz des großen Wagens, schlossen krachend die Türen und verschwanden für immer hinter einer Wolke aus rotem Staub.

Wohnung Nr. 9 stand wieder verwaist. Mit dem Leid kamen neue Falten an den Wänden, Risse in den Tapeten und Einsamkeit. Jetzt träumte die Wohnung davon, auszubrennen, alles für immer zu vergessen, denn sie wusste nicht, wie sie weiterleben sollte, jetzt verstand sie zum ersten Mal den Rumänen, der bei einer Flasche billigen Fusels immer von Neuem alles vergaß. Aus ihrem Fenster konnte man noch lange den rosafarbenen Blutfleck sehen (er gehörte dem Politiker, der, wie lokale Zeitungen schrieben, im Kampf für hehre Ideale und traditionelle Werte sein Leben gelassen hatte. Zwei Jahre später sollte eine Straße nach Blaue Krawatte benannt und er als Held gefeiert werden, aber das ist eine andere Geschichte). Eine halbe Stunde, nachdem die Autos weg waren, trampelte schon wieder eine Kinderschar über die Reste des herausgeschossenen Auges unseres künftigen Helden, und auch der rote Asphalt machte ihnen keine Angst. Die Kinder spielten mit ihren Stöcken Tsurky-Hilky – das einzige Glück auf dieser Welt. Der Wind wirbelte eine feuerrote Säule aus Staub auf, und die noch unberührten kindlichen Lungen atmeten ihn ein.

Bald würde der Sommer kommen. Und damit Firas Geschimpfe auf die polternde kleine Bande im Hof (und zwar völlig zu Recht), die Kämpfe um die Wäscheleine, der Juni würde Wolkenbrüche bringen, der Juli unerträgliche Hitze, man würde Grundeln braten (und mit etwas Glück auch Schollen), Paste aus Auberginen machen und Koteletts aus Sardellen, die braune Haut würde nach Bier und salzigem weißem Schaum riechen, der Boden wäre übersät mit honigsüßen Aprikosen (die niemand mehr essen mag). Der alte Lukitsch säße mit seinem gelben Zigarillo im zahnlosen Mund wieder unter der Linde und alle würden seinen Geschichten vom fernen Krieg lauschen (von dem Fira dachte, dass er sich bald wiederholen sollte, nur in einer irgendwie entstellten Form), Onkel Mitja würde seine kleinen Bürsten verkaufen, Lubka vom Schiff wiederkommen, Pinkus und Scheyla wieder mal versuchen, ein Kind zu machen, Wanja der Chinese schließlich würde den Taubenschlag beschützen und mit seiner großen, kupfernen Faust den unverschämten Katzenviechern drohen, die für solch unflätige Gesten aber nur faule Verachtung übrig hätten.

(Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk)