Die Stille und das Wort
Axel Helbig im Gespräch mit Iris Wolff
[Auszug]

Iris Wolff erhielt 2023 den Chamisso-Preis Dresden. Der Preis war mit der Chamisso-Poetikdozentur der Sächsischen Akademie der Künste verbunden. Zur Begründung hieß es: Iris Wolff erkunde in ihren Romanen immer wieder auch die Welt ihrer Kindheit im Banat – das Glück, die Wechselfälle und dunklen Schatten der Geschichte, Krieg, kommunistische Diktatur, Zusammenbruch des »Ostblocks« und Migration.

Ehe wir über Ihre beiden letzten Romane – »So tun, als ob es regnet« und »Die Unschärfe der Welt« – sprechen, möchte ich Sie fragen, welche Rolle Bücher in Ihrer Kindheit, in Ihrer Jugend und während der Studienzeit gespielt haben?
Bücher begleiten mich schon mein Leben lang. Das fing an auf dem Pfarrhof im Banat, wo ich aufgewachsen bin. Geschichten und Bücher waren selbstverständlicher Teil unseres Alltags. Mein Vater ist evangelischer Pfarrer, meine Mutter Erzieherin, und in beiden Berufen spielen Bücher eine große Rolle. Mein Vater hatte mich früh – bereits als Drei- oder Vierjährige – in den Konfirmationsunterricht mitgenommen, wo ich die großen biblischen Geschichten kennengelernt habe. Es war klar: Auf der einen Seite gibt es die uns umgebende alltägliche Welt, die materiellen Dinge, und auf der anderen die geistige Welt, zu denen man in Büchern und Geschichten Zugang hat. Die Wichtigkeit von Büchern setzte sich auch nach der Auswanderung nach Deutschland fort. Bücher waren in der Anfangszeit eher Weltfluchten. Ich erinnere mich an eine Szene: Meine Tante und mein Onkel nahmen mich mit in den Urlaub und wir fuhren mit der Gondel auf irgendeinen Berg in Österreich. Ich habe die ganze Zeit gelesen. Mein Onkel konnte es nicht fassen, dass ich nicht in die Landschaft schaue, sondern in ein Buch. Mit Sechzehn habe ich Dostojewski und Kafka entdeckt, sicher nur ein Viertel verstanden, aber eine latente Überforderung ist ja auch gut. [lacht] Dann hatte ich außergewöhnliche Deutschlehrer, interessanterweise immer Männer. Sowohl in der Realschule als auch später im Wirtschaftsgymnasium. Diese Lehrer haben mir die Welt der Literatur noch einmal ganz anders aufgeschlossen. Da ich recht ambitionslos war, was Zukunftspläne angeht, habe ich mich nach dem Abitur für Studienfächer entschieden, die ich wirklich mochte – ohne zu wissen, welchen beruflichen Weg ich später einschlagen möchte. Das waren Deutsche Sprache und Literatur, Religionswissenschaften und Grafik und Malerei. Früher konnte man sich im Vorlesungsverzeichnis aussuchen, was einen interessierte, es gab viel weniger Pflichtprogramme als heute. Nach dem Studium bin ich, über ein Praktikum, ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach gekommen – wo auch wieder die Welt der Literatur im Mittelpunkt stand.

Ihre bisherigen vier Romane sind eng mit Siebenbürgen und dem Banat verbunden, einer Region, die Sie 1985 als Achtjährige verlassen haben. Warum werden Sie als Autorin immer wieder in diese Regionen geführt?
Ich habe lange damit gehadert, weil ich natürlich, wie jeder andere Schreibende, nicht redundant sein möchte. So langsam wächst mir ein Einverständnis dafür zu. Ich bleibe ja in meinen Büchern nicht im Banat und in Siebenbürgen, alle Bücher berühren diese Welt, aber sie führen auch darüber hinaus, verbinden sozusagen diese erste, verlorene Welt mit meiner jetzigen – Südosteuropa, Deutschland, Österreich, die Schweiz oder wie in »So tun, als ob es regnet« die Kanarischen Inseln. Ich versuche meine Erzählwelt behutsam zu weiten. Eine Motivation, ins Banat und nach Siebenbürgen literarisch zurückzukehren, ist  natürlich, dass ich dadurch diese Welt noch betreten kann. Es ist eine verlorene Welt, die es so nicht mehr gibt, weil die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben fast vollständig ausgewandert sind. Ein Teil von mir möchte diese Zeit bewahren, zugänglich machen für andere Leserinnen und Leser. Auch weil ich daran glaube, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Gegenwart relevant ist.  Diese Region ist für mich wie ein Europa im Miniaturformat, mit ihren ganzen Migrationsbewegungen innerhalb der letzten Jahrhunderte. Immer wieder haben sich die Grenzen verschoben, wies man den Menschen neue Staatsbürgerschaften zu. Ich gehe immer wieder in diese Region zurück, weil mich die Geschichten interessieren, die sich dort zugetragen haben. Irgendwie ist meine Sprache an diese Region gebunden. Und: Ich mag diesen Menschentypus, den es dort zuhauf gibt.

Damit meinen Sie alle – auch die dort lebenden Rumänen und Ungarn?
Ja, alle Nationalitäten.

Auch wenn in Siebenbürgen und dem Banat Deutsch gesprochen wurde, war doch der Wechsel nach Deutschland ein Kulturwechsel. Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt? Welche prägenden Erfahrungen aus Ihrer deutsch-rumänischen Zeit wirken bis heute?
Das Prägende, das bis heute wirkt, ist eine gewisse Offenheit. Unser Haus im Banat war ein offenes Haus, in dem die unterschiedlichsten Menschen ein und aus gegangen sind, unabhängig von Nationalität,  Sprach- oder Volkszugehörigkeit oder der gesellschaftlichen Schicht. Von der einfachen Bäuerin bis hin zum Securitate-Mann, den man aus gewissen Zwängen heraus nicht ausladen konnte. Man lebte nicht in so einer Blase, wie das heute viel leichter passiert, und man gar nicht viel in Berührung kommt mit Menschen, die ein anderes Leben führen als man selbst. Durch diese Offenheit, die ich erfahren habe, komme ich  bis heute mit unterschiedlichsten Menschen aus. In den Schreibwerkstätten, die ich gebe, merke ich, dass ich Unterschiedlichkeit gut aushalten kann. Die Anfangszeit in Deutschland war schwer. Als Kind hat man die Repressalien nicht mitbekommen, auch nicht die wirtschaftliche Not, unter denen die Erwachsenen in Rumänien litten. In Deutschland lebten wir eineinhalb Jahre in einem Übergangswohnheim, was hieß, Bad und Küche mit anderen Menschen zu teilen, zu dritt in einem Zimmer zu leben. Das ist natürlich ein Einschnitt, wenn man von einem Pfarrhof mit großem Garten kommt. Dann natürlich die Nervosität der Eltern, die sich auf ein Kind überträgt. Der Vater hatte, wie alle siebenbürgischen Pfarrer, eine dreijährige Berufssperre. Es gab damals ein Abkommen zwischen den Landeskirchen, dass man Pfarrer, die auswandern, erst einmal mit einer Berufssperre belegt. So wollte man die Abwanderung der Pfarrer stoppen. Man wusste: Wenn die Pfarrer gehen, dann gehen alle.

Waren Ihre ersten beiden Romane – »Halber Stein« und »Leuchtende Schatten« – in ihrem Aufbau eher konventionell strukturiert, suchen Sie in »So tun, als ob es regnet« nach einem neuen Erzählmuster. Sie  nennen das »Roman in vier Erzählungen«. Was war der Ausgangspunkt für diese neue Art des Erzählens? Welche Autoren sind für Sie wichtig, welche Erzählmuster anderer Autoren finden Sie interessant? Und noch eine Frage: Ihre neue Art des Erzählens ist sehr dicht und poetisch. Lassen Sie sich auch durch Poesie anregen?
Der dritte Roman war wie eine Befreiung. Mein erster Roman »Halber Stein« fand eine durchaus respektable Wahrnehmung. Vor allem in Österreich – weil ich einen österreichischen Verlag hatte – und in der siebenbürgischen Gemeinschaft. Der zweite Roman »Leuchtende Schatten« erhielt so gut wie keine Rezensionen und nur wenige Leserinnen und Leser. Das war enttäuschend, weil ich diesen Roman unter Mühen geschrieben hatte. Ich war berufstätig, widmete alle meine Wochenenden und freien Abende diesem Buch. Das war die Zeit, in der ich mich fragte, ob ich so weitermachen könne. Im Nachhinein weiß ich, dass diese Erfahrung notwendig war, weil es mich wegführte von dem konventionellen Erzählen – wo ich alles auserzähle, immer aus dem Gefühl heraus: Die Leserinnen und Leser kennen Siebenbürgen nicht, also muss ihnen alles erklärt werden. Bei »So tun, als ob es regnet« habe ich die Lücke für mich entdeckt, die Multiperspektive, wo vieles unerzählt bleibt. Diese Erzählweise lässt mir viel Freiheit und zugleich auch den Leserinnen und Lesern. Sie können sich mit ihren Fragen, ihren inneren Bildern zu der Geschichte in Beziehung setzen. Dann fragten Sie mich, wer mich beeinflusst hat. Das sind in den letzten Jahren vornehmlich Lyrikerinnen und Lyriker. Ich lese fast täglich Gedichte, weil ich diese Offenheit mag, die Gedichte mitbringen, diese Musikalität der Sprache, dieses Anklingen-lassen, dieses In-Schwingungbringen, ohne in die Enge zu treiben oder auszubuchstabieren oder festzunageln. Der polnische Lyriker Adam Zagajewski war eine Entdeckung. Eva Strittmatter finde ich sehr gut, in ihrer Gabe, sich mit der Natur in Beziehung zu setzen. Marie Luise Kaschnitz mag ich, Rose Ausländer. Dann Gegenwartsautorinnen und Autoren, wie Nadja Küchenmeister oder Anja Kampmann. Ich habe selbst nie ein Gedicht geschrieben. Ich kann nicht in diese Reduktion gehen, aber ich brauche Gedichte, um selbst in eine Art Sprachgestimmtheit zu kommen. Für mich ist Literatur immer auch Arbeit am Klang. Die Melodie der Sätze ist wichtig. Mich beeindruckt  der Schweizer Autor Gerhard Meier. Er kommt – wie Hermann Lenz, der auch einer meiner Gewährsleute ist – in seinen Romanen fast ohne Handlung aus. Ich selbst bin eine Geschichtenerzählerin; ich weiß es durchaus zu schätzen, wenn etwas in der Geschichte passiert. Bei Meier sind es oft Gespräche, die er festhält. Zwei Männer gehen spazieren und unterhalten sich – 150 Seiten lang – erinnern die Vergangenheit, beschreiben die Natur. Ich könnte so nicht schreiben, aber diese Art von Literatur fasziniert mich.

»So tun, als ob es regnet« erzählt auf knapp 150 Seiten 100 Jahre Geschichte eines Landstrichs am Rande der Karpaten. Wie recherchiert man für einen solchen Roman? Wann war der erste Satz, wann die erste Idee da? Wie beschränkt man sich, um diese knappe, poetische Erzählweise zu erreichen?
Seit der Zäsur mit dem Roman »So tun, als ob es regnet« ist es so, dass ich mir kein Thema mehr willentlich suche. Bei den beiden ersten Romanen habe ich vorher genau überlegt: Was willst du schreiben, wer sind deine Figuren, was wird im Laufe der Handlung passieren? Bei »So tun, als ob es regnet« war der Soldat Jacob da, und aus der ersten Begegnung mit dieser Figur hat sich, in einem prozesshaften Wachsen, der Rest ergeben. Bei »Die Unschärfe der Welt« war es Florentine, die mich in die Geschichte hineinführte, ich habe vor mir gesehen, wie sie im Schneetreiben versucht, ins nächste Krankenhaus zu kommen. Ich warte auf eine Figur und auf ein Bild, um den Eingang in eine Geschichte zu finden. Dann setzt sich diese Welt nach und nach zusammen. Jacobs Geschichte hatte ich zunächst als Kurzgeschichte konzipiert und erkannte dann, wie viele interessante Leute darin angelegt sind – Alma, mit ihren so unterschiedlichen Töchtern zum Beispiel. Dann reifte die Idee, diese Welt weiter zu erzählen, in aufeinanderfolgenden Geschichten, die jede für sich eine eigene Welt sind, in der Hoffnung, dass sich am Schluss ein Gesamtbild ergibt. Hier glich das Schreiben also eher einem organischen Wachsen. Als ich meinem Verleger diesen »Roman in vier Erzählungen« übergab, fragte er übrigens: Was soll das denn sein? Aber er mochte die Idee.

Der Roman ist gleich zu Beginn auch ein Statement gegen den Krieg. Jacob, die Hauptfigur der ersten Erzählung, die im Ersten Weltkrieg handelt, stellt bei der Betrachtung der zerstörten feindlichen Stellungen fest, dass die getöteten Soldaten die gleichen Bücher gelesen haben wie er. Später kann er einen unbewaffneten Feind nicht töten und lässt diesen fliehen, im Kopf ein Gedicht von Georg Trakl. Eine ähnliche Szene findet sich auch in »Die Unschärfe der Welt«.
Man kann sich irgendeinen Flecken auf der Welt aussuchen und wird immer eine Geschichte von Kriegen, Unterdrückung, Heimatverlusten finden. Egal wo man in der Geschichte anhält oder sich umsieht, ob man in den Kaukasus geht oder nach Siebenbürgen. Es betrübt mich, dass wir anscheinend nicht fähig sind, aus der Geschichte zu lernen; dass es immer noch Menschen gibt, die meinen, Krieg führen zu müssen. Jacob war und ist mir in dieser Szene sehr nah. Er ist ja eher ein Beobachter, ein stiller Mensch. Der Krieg nimmt darauf keine Rücksicht. Jacob merkt in jener Szene, dass er den rumänischen Soldaten nicht erschießen kann, dass man ein Kollektiv leichter hassen kann als ein Individuum. Plötzlich erkennt er, dass ihm ein Mensch gegenübertritt mit einer bestimmten Augenfarbe, ihm wird bewusst, dass er vielleicht ähnliche Hoffnungen und Träume hat, dass er wahrscheinlich auch nicht hier stehen, und gewiss nicht sterben will. Und da kann Jacob nicht mehr schießen. Solche Stellen suche ich im Schreiben, Augenblicke,
in denen die Verletzlichkeit der Figuren offenbar wird. Dazu passt dann eben auch der Gedanke, dass man auf beiden Seiten die gleichen Bücher liest. Durch Literatur kann deutlich werden, dass Menschen aus allen Ländern und Zeiten uns ähneln, dass wir einander gar nicht so fremd sind, wie man zunächst vielleicht denken mag.

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