Liebe Leserin, lieber Leser,
in dieser Ausgabe des OSTRAGEHEGE nehmen sich gleich mehrere Beiträge mehr oder weniger ausdrücklich eine dichterische Tugend vor, die kaum überschätzt werden kann: Das genaue Schauen, Hinschauen, Bemerken, Gewahrwerden. Wie dieses genaue Schauen dann in eine poetische Prozedur überführt wird und mithin in eine Produktion von Texten mündet, dem geht Uwe Hübner in seinem Essay zu Rolf Dieter Brinkmann und dessen vielschichtigem, bis heute aufregenden Buch »Rom, Blicke« nach.
Bertram Reinecke widmet sich in seinem Prosatext einem Säulenheiligen der modernen Kunst: Caspar David Friedrich. In einem Brief, der sich zu einer Suada steigert, entwickelt ein sinnreicher Kunstkenner um 1830 eine Perspektive, in welcher mit erstaunlicher argumentativer Schlüssigkeit die künstlerische Nachrangigkeit Friedrichs erwiesen wird.
In Róža Domašcynas Prosastück sind es nicht nur die beiden Protagonistinnen, welche schauen, sondern gleichermaßen auch die Porträts und Fotos an den Wänden, welche den Betrachter zurück anschauen, beobachten, hindurchsehen.
Der Fotograf Frank Höhler bezeichnet seine Aufnahmen als »Sehübungen«, wie Agnes Matthias in ihrem Essay herausarbeitet. Ihn beschäftigt die »Suche nach Formen und Strukturen, die unsere gebaute wie die natürliche Umwelt durchziehen.« In seinen Bildern »werden die Motive einem erzählerischen Zusammenhang entnommen und zur grafischen Komposition«.
In der Lagebesprechung stellt Dagmara Kraus die junge Dichterin Liv Thastum vor, die in ihren Gedichten das Deutsche und das Dänische zu einem einzigartigen »Dänysk« verwebt. Liv Thastum interessieren »gerade jene Formen des Verstehens und Zuhörens, die sich außerhalb oder neben semantischen Entschlüsselungen bewegen.«
In dieser Folge der »Leningrader Chrestomathie« geht Valery Schubinsky mit Daniil Charms der Beharrlichkeit von Frohsinn und Schmutz sowie der Metaphysik des absoluten Hauswarts nach. Zu entdecken gibt es außerdem neue Lyrik von Oleg Jurjew in der Übertragung von Kathrin Schmidt, von Birgit Kreipe, Ulrike Draesner und Gregor Kunz.
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre des neuen Heftes, und beim Schauen, Bemerken, Gewahrwerden.
Die Redaktion