Elsie. Kirschen.
Manuela Bibrach

Vierunddreißig Grad im Schatten. Elsie pendelt. Zwischen Kirschbaum und Pool. Zwischen Pool und Kirschbaum. Süßkirschen. Dunkel, prall. Elsie pflückt eine Kirsche, steckt sie in den Mund, kaut. Spuckt den Kern aus. Pflückt die nächste. Kaut. Spuckt. Zufrieden. Die Kirschen füllen fest und rund den Mund. Sie platzen beim ersten Biss und geben auf einen Schlag ihren süßen Saft frei. Plopp. Elsie kaut mit Bedacht. Pflückt vorsichtig und mit Verstand. Den Badeanzug hat Elsie gleich angelassen. Sie hat jetzt genug Kirschen in ihrem Mund platzen lassen und schlendert hinüber zum Pool. Nimmt jede einzelne Stufe der Treppe ganz langsam und mit einem leichten Schreck vor der Kühle des Wassers. Als ihre Füße den Boden erreichen, steht sie noch eine Minute still. Das Wasser geht ihr bis zur Brust, die Arme hat sie hoch erhoben. Schließlich taucht Elsie auch die Arme ins Wasser, bleibt so eine weitere Minute stehen, atmet tief ein, hält die Luft an und lässt sich schließlich mit einem heftigen Ausatmen bis zum Hals ins Wasser gleiten. Der Schock ist schnell vorbei und Elsie genießt die Kühle am ganzen Körper. Sie legt sich rücklings aufs Wasser, lässt Zehenspitzen und Hände herausragen. Tote Frau. Elsie beherrscht diese Figur perfekt. Sie entspannt sich bis in die Fingerspitzen und liegt wie in einer Wolke. Vom Gesicht bleiben nur der Mund, die Augen und die Nase über dem Wasser. In Elsies Ohren rauscht es dumpf. Sie starrt in den Himmel, verfolgt mit den Blicken ein Federwölkchen. Elsie kann stundenlang so treiben. Zeitlos. Sie denkt an Millais Ophelia. Dass sie jetzt genauso aussehen müsste für einen Betrachter. Nur die Blumen in den Händen fehlen. Mohn, Margeriten und Kornblumen. Elsies Gedanken beginnen zu verschwimmen. Elsie ist jetzt Ophelia. Wahnsinnig geworden an der Liebe. Für immer ins Wasser gegangen. Ertränkter Schmerz. Endlich leicht und frei. Eine Verwandte der Fische. Elsie ist minutenlang verrückt und tot. Plötzlich spült Wasser über ihren Mund. Hastig hebt Elsie den Kopf aus dem Wasser, verschluckt sich. Hustet. Setzt die Beine auf den Grund, geht zur Leiter. Steigt aus dem Becken. Pendelt zum Kirschbaum. Elsie pflückt eine Kirsche, steckt sie in den Mund, kaut. Spuckt den Kern aus. Pflückt die nächste. Kaut. Spuckt. Zufrieden. Denkt an das Paradies. Dass es genauso gewesen sein muss damals im Garten Eden. Elsie ist jetzt Eva. Die erste Frau. Aus einer Rippe geschnitzt. Verführerisch und verführbar. Äpfel, Kirschen, Schlangen. Das Paradies hält kaum Überraschungen bereit. Seine Vorhersagbarkeit ist sein größtes Kapital. Und seine größte Schwäche. Langeweile. Die Eva aufheben wird. Elsie lässt eine Kirsche in ihrem Mund platzen. Käme jetzt eine Schlange, Elsie würde ihr kalt den Rücken kehren. Das Paradies aufgeben wegen eines Apfels. Erkenntnis statt ewigen Friedens. Nicht mit Elsie. Sie wäre die bessere Eva gewesen. Anschmiegsam. Bedürfnislos. Nicht einmal einen Adam hätte sie gebraucht. Gott hätte zuerst sie erschaffen sollen, denkt Elsie. Dazu einen Pool und einen Kirschbaum. Den Sündenfall hätte es dann nie gegeben. Falsche Entscheidung. Denkt Elsie und pendelt zum Pool. Nimmt jede einzelne Stufe der Treppe ganz langsam und mit einem leichten Schreck vor der Kühle des Wassers. Taucht endlich ein. Legt sich bäuchlings aufs Wasser und öffnet die Augen. Vorsichtig. Sieht unter sich einen Fisch. Erschrickt, atmet tief ein und erschrickt noch einmal. Elsie kann unter Wasser atmen. Wie in einem Traum. Elsie atmet noch einmal ein und aus. Und noch einmal. Es funktioniert. Elsie ist jetzt eine Nymphe. Eine Najade. Sie streift den Badeanzug ab und fährt sich mit den Händen durchs Haar. Das weht im Wasser wie im Wind. Elsie macht ein paar ausladende Schwimmzüge und taucht durch ganze Meere von Wasserpflanzen. Phantastische Blüten. See-Anemonen. Fische. Bunt und schillernd. Elsie staunt mit offenem Mund. Sieht unter sich einen Aal, einen Apfel im Maul. Wie er sich schlängelt. Elegant. Wie er herangleitet. Elsie bekommt den Mund nicht zu. Der Aal kommt Elsie ganz nah. Vor ihrem offenen Mund macht er Halt. Steckt ihr den Apfel aus seinem Maul tief hinein. Zuckt mit der Schwanzspitze. Scheint zu grinsen. Schwimmt eilig davon. Eine Kirsche fällt ins Wasser wie eine Träne. Plopp.