Dankworte zum Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden, 11. Mai 2019
Marcel Beyer

Als Schriftsteller bin ich aufmerksam für die Geschichten, die um mich herum erzählt werden. Höre aufmerksam zu, wenn man mir erzählt.
Zugleich bin ich aufmerksam für Erzählformen, für die dramaturgische Ausgestaltung, für die Reihenfolge der erzählten Ereignisse, wie eins aus dem anderen folgt, wie eins ins andere übergeht. Ich achte auf sich wandelnde Erzähltemperaturen, auf Farben und Ton.
Als ich Mitte der neunziger Jahre nach Dresden kam, erzählte hier zu meinem Erstaunen niemand vom Herbst 1989. Die Menschen erzählten von New York, von Paris, von Italien, sie erzählten von Entdeckungen, die sie nach 1989 gemacht hatten. Nicht auf die Vergangenheit richtete sich die Euphorie, die Euphorie lag in der Gegenwart, sie reichte in die Zukunft hinein, in Erwartung aller Entdeckungen, die man vor sich sah.
Niemand wollte in Fernsehbildern aus dem Westfernsehen der jüngsten Vergangenheit leben. Der 9. November war der 9. November. Und der war vorbei.
Niemand wollte sein eigenes Leben als ›typisch‹ betrachtet sehen. Legte man es darauf an, jemanden zur Weißglut zu bringen, genügte es, die Ostdeutschen im Plural anzusprechen. »Die Ostdeutschen« – das war eine Beschimpfung. Heute ist »Die Ostdeutschen« eine Marke.
Ich kenne keinen in den achtziger Jahren in der DDR geborenen Menschen, der mit dieser Marke etwas anfangen könnte. Vielmehr wird sie von Jüngeren in den zurückliegenden Jahren unter dem Eindruck erschütternder Nachrichten aus dem Osten als Fluch empfunden. Erst diese Ereignisse haben sie in den Augen ihrer westdeutschen Altersgenossen zu Ostdeutschen gemacht.

Wenn ich erzähle, muß ich auch vom Erzählen erzählen. Denn ich merke, wie auch ich selbst mich verändert habe. Im Westen erzähle ich anders vom Osten, als ich im Osten vom Osten erzähle.
Als ich in Dresden ankam, wollte niemand seine Lebensgeschichte als Opfergeschichte erzählen. Man erzählte mit festem Blick. Man erzählte aus einem trotz Widrigkeiten selbstbestimmten Leben, so daß alle Widrigkeiten und Enttäuschungen als Momente der Charakterbildung aufzufassen waren.
Als Schriftsteller spüre ich, wie sich Erzählungen über die Jahre hinweg verändern, wie sich mit den Stoffen auch das Bild wandelt, das ein Erzähler von sich selbst entwirft.
Ich spüre, wenn jemand beginnt, sein Leben immer näher an die Erzählformate des Fernsehens anzupassen, die ihm erzählen, wie er gelebt haben soll.
Ich spüre, wenn Menschen beginnen, mir Märchen zu erzählen, die sie sich ausgedacht haben, um Ordnung in ihr Leben zu bringen, koste es, was es wolle.
Mancher erzählt sich damit sein ganzes eigenes Leben kaputt.

Alles, was wir heute von »damals« erzählen, sind Geschichten aus einer Welt der Wählscheibentelefone, aus einer Welt, in der es genau ein Unternehmen gab, bei dem man einen Telefonanschluß bestellen konnte, und dieses Unternehmen gehörte dem Staat. Ob hier nun vom Osten oder vom Westen die Rede sein soll, weiß kein um die Jahrtausendwende geborener Mensch mehr zu sagen.
Ich habe erlebt, wie Menschen mit dem Voranschreiten der Zeit ihren Erzählzeitrahmen Stück für Stück in die Vergangenheit gerückt haben, bis hinter jene magische Grenze des Jahres 1989, in eine Erinnerungswelt, die ich nicht teile, bei der ich nicht ›mitzureden‹ habe.
Es ist, als hätten sie offenen Auges dreißig Jahre ihres eigenen Lebens gestrichen, nur damit niemand von außen ihre Lebensgeschichte hinterfragen kann.
Man kann sie nicht einmal fragen, ob sie fürchten, irgendwann in ein Loch zu fallen, wenn ihnen die Zuhörer ausgehen, wenn ihnen niemand mehr zuhören mag. In das Loch jener Null auf der Wählscheibe vielleicht, mit der damals jedes Ferngespräch begann.
Dreißig Jahre nach ihrem Ende gleitet die DDR in eine andere Sphäre. Sie wandelt sich, wird als Erzählmaterial von der Lebensfolienbeschreibung zum Zeitzeugenkapital. Sie wird Stoff für das Geschichtsbuch. Stoff, von dem man befürchtet, er wird unter unseren Händen, unter unseren Augen erkalten.
Und erkalten wird dieser Stoff, wird es unweigerlich.

Manche Nachwendegeschichte, die ich Mitte der neunziger Jahre als Triumphgeschichte erzählt bekommen habe, wird mir heute als Geschichte des Scheiterns erzählt, als Trotzgeschichte, die sich mit bedrohlicher Energie einer Keiner-beachtet-mich-ich-schlage-hier-alles-in-Stücke-Geschichte nähert.
Wir werden sehen, welche Erzählformen, welche Erzählmuster die Kinder der Mauerfallgeneration für ihre Familiengeschichte erproben werden. Ich hoffe, es werden nicht die alten sein.