»Alle immer Grenze, Grenze. Wo ist Grenze. Was Grenze. Grenze Jevropa, Grenze Welt«, fragt die Nachbarin des Ichs in Sagal Maj Comafais Prosagedicht Jevropa.
Die Frage lässt sich auch auf die vier Literaturen der Schweiz anwenden. Sie sind durch eine grenzüberschreitende Durchlässigkeit des literarischen Schaffens ihrer Autorinnen und Autoren gekennzeichnet. Durchlässig muss dieses gegenüber den jeweils anderen drei Sprachen der Schweiz bleiben, um im ganzen Land Geltung zu erlangen, noch durchlässiger aber gegenüber den großen Nachbarländern, um in der Gesamtheit des betreffenden Sprachraums Anerkennung zu finden. So stehen die Literaturen der Schweiz immer schon im Dialog mit verschiedenen Kulturen, in dessen Verlauf sich Gemeinsamkeiten ebenso offenbaren wie Unterschiede.
Die Verflechtungen und eine damit einhergehende Unruhe des literarischen Schaffens in der Schweiz reichen aber viel weiter. So ist es in den letzten dreißig Jahren für dessen Entwicklung zum Beispiel immer wichtiger geworden, dass viele Autorinnen und Autoren aufgrund ihrer eigenen Geschichte oder jener ihre Familie mit verschiedenen Sprachen und Kulturen verbunden sind. Das zeigt sich in den Prosagedichten von Sagal Maj Comafaj, aus denen das anfängliche Zitat stammt. In seine Prosagedichte lässt der heute 28Jährige Sprachkenntnisse einfließen, die sich aus verschiedenen Verflechtungen seines Lebens für ihn ergeben haben, und lässt im Pars pro toto der anspielungsreichen Kurzform die Idee eines unfassbaren Ganzen aufscheinen. Comafai hat am Schweizerischen Literaturinstitut studiert in Biel, das über die Präsenz der deutsch- und der französischsprachigen Literaturen hinaus zu einem Ort des mehrfachen Dialogs geworden ist.
In ihrem Gespräch zeigen Friederike Kretzen (*1956) und Michael Fehr (*1982), wie Schreibende zweier Generationen über zehn Jahre nach ihrer Zusammenarbeit im Mentorat am Institut miteinander verbunden bleiben. Sie stimmen in ihrer Einschätzung des Literaturbetriebs und in ihren Grundanliegen erstaunlich weitgehend überein, obwohl sie in ihrem Schreiben ganz unterschiedliche Wege gehen.
Fruchtbar ist ihre Zusammenarbeit im Mentorat also gerade insofern geworden, als Fehr mit einen ganz ihm eigenen Weg gefunden hat. Von Geburt an schwer sehbehindert, lässt er seine Texte nicht im Schreiben, sondern im Sprechen entstehen und zieht mündlichen Vortrag als begnadeter Rezitator, Sänger und Musiker der Buchpublikation vor. Das erklärt auch seine Vorliebe für kürzere Texte, die das Publikum mit skurrilen Geschichten überraschen und zum aktiven Weiterspinnen des Vorgetragenen einladen.
Kretzen hingegen zieht von jeher Großformen vor und geht in ihren mittlerweile zehn Romanen immer wieder neu in die Richtung dessen, was das Wort aus der Kindersprache anzeigt, das 1996 ihrem vierten Roman den Titel gab: Indiander, in die Anderen bzw. ins Andere schlechthin, ob dieses sich nun kindlichem Phantasieren oder fremden Kulturen verdanke. Ihre Werke kann wie dasjenige der kürzlich verstorbene Hanna Johansen nur angemessen gewürdigt werden, wenn neben ihrem Wirken als Autorin in der Schweiz auch ihre Kindheit und Jugend in Deutschland im Blick behalten wird.
Wie wichtig die deutsche Geschichte auch für eine junge Autorin werden kann, deren Familie seit zwei Generationen in der Schweiz lebt, zeigt die 27jährige Fabienne Lehmann in dem Romanprojekt Wenn sich die späten Nebel drehen, mit dem sie 2023 ihr Studium am Schweizerischen Literaturinstitut angeschlossen hat. Im brieflichen Dialog mit ihrer deutschen Großmutter sucht eine junge Schweizerin die Biografie einer Deutschen zu rekonstruieren, die im Zweiten Weltkrieg als Kind aus Ostpreußen fliehen musste.
Matthias Zschokke hinwiederum hat mit 26 Jahren die Schweiz verlassen und lebt seit 1980 in Berlin, wo er in seinem Schreiben sowohl aus dem Leben in der Großstadt wie aus den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der Schweiz schöpft. Seine Figuren zeichnen sich von jeher dadurch aus, dass sie außerhalb gesellschaftlicher Konventionen ihrem wunderlichen Eigensinn folgen. In seinem jüngsten Roman, Der graue Peter, spielt zum ersten Mal ein Kind eine wichtige Rolle, was den realitätsfernen Protagonisten in verfängliche Situationen bringt.
Aus der deutschsprachigen Lyrik der Schweiz werden hier neben dem Altmeister Jürgen Theobaldy jüngere und weniger bekannte Autorinnen und Autoren vorgestellt. Simone Lappert erinnert mit dem Titel ihres ersten Gedichtbandes längst fällige verwilderung an Otto F. Walters Roman Die Verwilderung und über ihn an Gottfried Keller, nur dass bei ihr nun die weibliche Perspektive vorherrscht.
Francesco Micieli, einer der ersten Autoren der Migration in der Schweiz, hat erstmals zwei Gedichtbände veröffentlich, Kindergedichte und Der Auftrag und nimmt im Letzteren in poetischer Behutsamkeit auf die Zeit der Corona-Pandemie Bezug. Jürgen Theobaldy erweist in seinem Jahreszeitenzyklus Einfach um die Sonne Rainer Brambach wie Antonio Vivaldi seine Reverenz, und das Poesiealbum 368 hat mit der Auswahl von H. C. Buch einen Streifzug durch sein ganzes lyrisches Schaffen veröffentlicht. Die 32jährige Julia Toggenburger gehört mit dem Gedichtband Nebelgrenze zu den jungen Hoffnungen der deutschsprachigen Lyrik aus der Schweiz, während Levin Westermann, der sich wie einst Theobaldy aus Deutschland kommend in der Schweiz niedergelassen hat, mit seinem vierten Lyrikband farbe komma dunkel im ganzen deutschen Sprachraum schon eine feste Größe darstellt.
Emanuelle Delle Piane, italienisch-schweizerische Doppelbürgerin, ist als Theaterautorin vor allem in Frankreich und Belgien bekannt. In Stille Stimmen – Voix silencieuses lässt sie Frauen und Kinder aus aller Welt, deren elementare Rechte verletzt werden, zu Wort kommen, dank der Übersetzung des österreichischen Schauspielers Samuel Machto nun auch auf Deutsch.
Um die Rechte von Grenzarbeitern in einer Region, die desindustrialisiert wird, geht es im Roman Les nuits d’été – Sommernächte, der von Yves Raeber auf Deutsch übersetzt wurde. Rebecca Gisler ist in beiden Sprachen aufgewachsen und hat ihren Roman D’oncle – Vom Onkel auf Französisch und auf Deutsch veröffentlicht. Es geht ihr dabei nicht einfach um deckungsgleiche Varianten desselben Textes, was sich daran zeigt, dass sich der hier abgedruckte Ausschnitt in der französischen Ausgabe in Kapitel 6, in der deutschen in Kapitel 2 befindet.
In der Erzählung Le malorose – Die Glücklosen, übersetzt von Barbara Sauser, gibt Sara Catella wieder, was die Hebamme eines abgelegenen Bergtals im Tessin bei ihrer täglichen Pflege dem todkranken und verstummten Don Antonio, Pfarrer von Corzoneso, darüber erzählt, wie sie den »Glücklosen«, den Frauen im Tal bei der Geburt ihrer Kinder – und manchmal bei der »Befreiung« von diesen –, beisteht, und zeigt damit das Bild eines Tessins, dessen verarmte Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur massenweise Auswanderung gezwungen war.
Enzo Pellis Gedichte konnten dank der Übersetzung von Christoph Ferber wie die Texte von Delle Piane in einer zweisprachigen Ausgabe erscheinen. Der Übersetzer hat aus den fünf Gedichtbänden des 75jährigen Lyrikers eine Auswahl getroffen, die mit dem Sammelbegriff »Miniaturen des Abschieds« bezeichnet werden könnten.
Die 79jährige Leta Semadeni ist dieses Jahr mit dem Großen Literaturpreis der Eidgenossenschaft für ihr Gesamtwerk in Erzählprosa und Lyrik ausgezeichnet worden. Sie schreibt wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Graubünden in ihrem Idiom des Rätoromanischen, hier dem Vallader aus dem Unterengadin, und zugleich auf Deutsch. Mit dem Nebeneinander von Vallader und Deutsch geht es ihr nicht einfach um Übersetzung oder Übertragung, sondern – ähnlich wie der ebenfalls zweisprachigen Rebecca Gisler – um autonome Sprachschöpfungen, die im Dialog der beiden Sprachen entstanden sind.
Der Abschluss dieses Themenschwerpunkts Schweiz mit den Gedichten Semadenis soll noch einmal bekräftigen, was die Leitlinie der vorliegenden Textauswahl war: Verflechtungen hervorheben, wie sie gerade in kleinen und kleinsten Literaturen besonders häufig zu beobachten sind, und Texten den Weg in den ganzen deutschen Sprachraum eröffnen, denen der Buchmarkt trotz ihrer Bedeutsamkeit wenig Chancen zu einer größeren Verbreitung bietet.
Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt dieses Ansinnen zur Erweiterung des Dialogs durch eine großzügige Mitfinanzierung, dafür sei ihr hier herzlich gedankt. Dank gebührt ebenfalls den Autorinnen und Autoren sowie Übersetzern und Übersetzerinnen, die ihre Texte zur Verfügung gestellt haben, und natürlich den Verlagen, die uns die Rechte zum Abdruck gaben.