Man weiß nie, wer einen noch
anfasst dann, tot.
(James Joyce)
Ein roter Passat Caravan fährt auf der Landstraße über die Felder, es ist früh am Morgen, in der ersten Junihälfte. Er ist überladen mit Pfirsichkisten und berührt hinten fast die Straße. Der Motor brummt und zerreißt die Stille: Wie aus einer unsichtbaren Spitztüte voll Zucker rinnt das Licht der Morgendämmerung auf die Felder.
Hinterm Steuer sitzt Meho, Bauer aus Dubrave, Ehemann und Vater von zwei Kindern. Seit Jahren schon verbringt er die Vormittage auf dem Großmarkt in Čapljina, wo er verkauft, was ihm die Erde gibt. Außer den Pfirsichen bauen Meho und seine Familie Paprika und Kartoffeln an. Es ist Juni, die Reifezeit der Pfirsiche, und er ist früh aufgebrochen, um einer der ersten auf dem Markt zu sein. Der Passat, der durch seine Ladung hinten tief liegt, wirkt als könnte er jeden Moment abheben und in den Himmel fliegen.
Bei Potkosa zündet sich Meho eine Zigarette an. Er ist fast fünfzig, doch selbst heute noch bereitet ihm die erste morgendliche Zigarette jungenhafte Freude. Wenn er nach der Schachtel greift, die er neben dem Herzen in der Hemdtasche trägt, schmerzt ihn der Unterleib. Die Züge inhaliert er vorsichtig, ohne Eile, und es ist, als würde sein Passat schweben. Beim Irrenhaus in Domanovići wirft er – das Fenster ist einen Spalt geöffnet – den brennenden Stummel weg und ergreift, mit einer ausreichenden Dosis Nikotin im Blut, beidhändig das Steuerrad und fährt den pfirsichüberfüllten Passat vorsichtig die geschlängelte Straße hinunter, durch die Siedlung Muminovača, dem Vorort von Čapljina. Diesen Teil der Strecke genießt Meho nicht mehr. Währenddessen denkt er nach, ob er wohl Glück haben und die Pfirsiche sofort verkaufen wird oder sie abends zurück nach Hause bringen muss.
Wenn er das Obst verkauft kriegt, wird er warten, dass die Läden aufmachen, einen Wecken kaufen, ein paar Argeta, ein Kilo Tomaten und eine Poli Wurst. Er wird nach Hause kommen, noch bevor die Kinder wach sind, mit seiner Frau Kaffee trinken und dann, zufrieden, lange frühstücken. Wenn er die Pfirsiche aber zurückbringt, wird er schlecht gelaunt sein und seine Wut an den Kindern auslassen, sie zunächst zwingen, die Kisten in die Garage zu tragen und sie dann ins Gewächshaus schicken, um Unkraut zu jäten. Es geht ihm gar nicht so sehr um die Pfirsiche; was ihn quält, ist das Dorf mit seinen bösen Zungen. Sobald es dem ersten zu Ohren kommt, wird sich den ganzen Tag herumsprechen, dass er die Pfirsiche aus Čapljina zurückbringen musste und sie ihm bis morgen alle verfaulen werden. Alle, die er dann trifft, werden ihn fragen, ob er verkauft hat, obwohl sie die Antwort kennen. Sie werden sich an seinem Leid ergötzen und ihn trösten, wie man kleine Kinder tröstet, wenn ihnen etwas nicht gelingt.
Solche Gedanken schwirren Meho im Kopf herum, während er am Eingang die Marktmiete zahlt. Viele sind schon angekommen und fast alle haben Pfirsiche mitgebracht. Die wenigen Abnehmer vor Ort sind wählerisch: Sie langen in die Kisten und führen die Früchte zur Nase, riechen daran, sagen hier und da etwas, legen sie wieder zurück in die Kisten – ein wahres Spektakel bietet sich durch die Scheiben des Passats, während Meho den Markt umkreist, auf der Suche nach einem freien Platz.
Bauern behandeln Händler in der Regel vorsichtig und sind listenreich in ihren Manövern. Sie schmeicheln ihnen und preisen zugleich die eigenen Produkte an: Sie seien nicht wie die anderen hier, setzten keine Pflanzenschutzmittel ein, oder nur so viel, wie wirklich nötig. Manche beißen sogar in die Früchte und kauen wild, in der Hoffnung den Abnehmer zu überzeugen, bei ihnen sei das Obst am besten und auf keinen Fall giftig. Dabei versichern sie ihm wer weiß wie oft, dass sie nur so viel gespritzt hätten, wie es unentbehrlich sei, damit die Frucht überlebt und nicht krankt.
✴ ✴ ✴
Das Morgengrauen hat die Nacht vollkommen vertrieben und Meho vergleicht nun seine Pfirsiche mit denen der restlichen Bauern. Seine sind, so scheint ihm, viel kleiner. Er könnte schwören, gestern Abend, als er sie pflückte, waren sie viel, viel größer. Mit Pfirsichen ist es wie mit Schuhen, wenn du in ein Schuhgeschäft hineinspazierst: Die an deinen Füßen sehen irgendwie ärmlicher aus – überlegt Meho, während er den Markt betrachtet, der, wie ihm scheint, eben noch vor Pfirsichen ganz rot war. Mittlerweile zeigt sich das Rot nur noch stellenweise, wie wenn der Schnee schmilzt und bloß noch Ecken und windgeschützte Plätze weiß bleiben.
So ist das an Großmärkten – plötzlich wird dir bewusst, dass viele ihr Obst schon verkauft haben und du mit deinen winzigen Früchten übrig geblieben bist. Später fragst du dich, wann all diese Händler gekommen sind und wie sie die Ware so schnell abgeklopft haben. Du tröstest dich, dass überhaupt nicht so viel Ware da war, wie du dachtest, du dir alles nur eingebildet hast.
Und schämst dich.
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Gegen Mittag hat er ein belegtes Brot gegessen und einen Kaffee getrunken. Er hat schon eine ganze Packung Drina geraucht und eine neue angebrochen. Hier und da kennt er sogar jemanden auf dem Markt, aber ihm ist nicht nach Gesellschaft, und wenn man ihn grüßt, antwortet er nur knapp oder winkt ab. Senada und die Kinder sitzen jetzt im Haus und wissen – weil er ja nicht da ist! –, dass es mit den Pfirsichen nicht läuft und er geladen wie ein Gewehr zurückkommen wird. Senada hat die Kinder bestimmt schon irgendwie beschäftigt – sie wird alles dafür tun, um ihn wenigstens ein bisschen aufzumuntern. Vor kurzem hat sie gemeint, man sollte mal wieder bei ihrer Tante vorbeischauen, sie seien lange nicht dort gewesen, aber jetzt hat sie vermutlich von der Idee abgelassen. Sogar wenn sie sich sicher wäre, dass Meho einwilligt: Heute würde sie sich nicht trauen, ihm zuzureden.
[…]
Auszug aus dem Roman »Hochland«, aus dem Bosnischen von Dina Bijelić