Beim Poetenladen Leipzig sind zuletzt zwei Bücher aus der sächsischen Literaturlandschaft erschienen, die die je eigene Summe eines dichterischen Œuvres bilden. Bertram Reinecke stellt in »Daphne, ich bin wütend«, wie Jan Kuhlbrodt in seinem Nachwort schreibt, so etwas wie »Sichtbarkeit her«. Reinecke-Kenner wissen, dass die ausgeklügelten Montage Gedichte des 1974 in Mecklenburg geborenen Autors aus »unsichtbaren« Versen, Passagen, Versatzstücken gewirkt sein können, die aus Dantes Paradies, den Werken barocker Dichterinnen oder der griechischen Reihe des eigenen Reinecke & Voß Verlags stammen. In seinem inzwischen siebten Buch ist das nicht anders.
Sichtbarkeit meint aber auch: die der Sprache an sich. Gleich zu Beginn bringt der Autor als ironische Replik auf seinen ersten Gedichtband neue Folgen aus dem »Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst«: »Welches Heu hat der Fremde? – Er hat das des Bauern. (…) Wer hat meinen Esel? – Der Bauer hat ihn.« Nach dem Ionesco’schen Spiel mit der basalen Hermeneutik des Fremdsprachenerwerbs finden sich im nächsten Kapitel gleich vier gültige Übersetzungen einer berühmten Villanelle von Dylan Thomas: »Geh nicht in diese Nacht devot / Zuck zornentzückt, wenn dir das Licht verloht.« In seinem Kommentar wertet Reinecke die Möglichkeiten einer Übertragung damit als »weitgehend ausgereizt«. Anmerkungen mit ihren peniblen Registern und zwinkeräugigen Kommentaren, die bisweilen wie Handreichungen für Exegeten wirken, sind essentieller Bestandteil dieser Poesie.
Für Reinecke, einen der Absolventen des Leipziger Literaturinstituts mit der konsequentesten Poetik, wird alles zum Material: »walfisch aus gas, walfisch aus rauch / rosenklein rudern von ast zu ast flackernde laubgehäuse / wie spielfiguren oder miniaturlandschaften / in einem widerwärtig warmen haufen«. Die Vierzeiler des schönen Herbstgedichts »Die Gartenfeuer« sind aus Versen gebaut,
die er der Greifswalder Zeitschrift »Risse« entnimmt. Die leisen Störungen in Rhythmik und Bildlichkeit sind dabei wohlkalkuliert, die Bewältigung der Textkorpora erfolgt von Hand. Kuhlbrodt spricht ganz zeitgemäß »von einer Art Recycling«, was ein Gedicht wie »Vasilis, müllsammler« zu bestätigen scheint.
Es gibt auch Texte, in denen, wie der Dichter es nennt, »das zufällig Persönliche« aufscheint. »Albis barbarus, die Brabbelnde, albia barbara, Ali Baba« – aus einem vor Jahren in Dresden verfassten Gedicht über die Elbe leuchten kleine Zauberformeln entgegen. Das ist eben das Wunderbare an Bertram Reinecke: Aus allem spricht Witz, Klugheit, die Lust an der poiesis. In seinem bemerkenswerten Schlussessay geht der begnadete Polemiker mit der Lyrik der Gegenwart hart ins Gericht. Erst ihre »vielfältigen Verfahren« hätten die Poesie doch zu einem »Riesenraum in wenigen Zeilen« gemacht. Daher plädiert er beim Schreiben für den Gebrauch von Regeln, zu denen eben auch Reime und strenge Formen gehören – die Urform des Montage-Gedichts, das Cento, stammt aus der Antike – statt »bloßes Kunstwollen« gutzuheißen, das sich zwangsläufig an Moden orientiert.
Die Lyrik von Měrana Cušcyna bewegt sich insofern im selben Kontinuum, als die in zwei Sprachen dichtende Sorbin – nach Kito Lorenc und Róža Domašcyna die dritte in der »Reihe Neue Lyrik«, in der auch Reinecke erscheint – zum Sprachspiel quasi verdammt ist: »ale / hörte ich am elbufer / aus dem windlaut / und dachte / alle gehen zur brücke / aber / nur wenige wählten diese / beim äherkommen / vernahm ich / sorbische zwiesprache / sie setzten alle über / zum aber«. Aus der Not dieser »Irritation zweisprachig« macht die 1961 geborene Dichterin aus Bautzen, die seit 2000 zumeist in obersorbischer Sprache publiziert, eine lesenswerte Tugend. Dreizehn Titel sind von ihr im Domowina Verlag lieferbar. Für den deutschsprachigen Bereich ist »innen bröckelt die unerhörte schicht« quasi ein Debüt.
Konzipiert ist der Band als Gang durch eine Biografie in zehn Kapiteln: Aufwachsen im sozialistischen Staat, sorbische Selbstbehauptung, Hommagen wie die an das »brauch tum trio« aus »Róža Měrka Měrana«, das Kettengedichte verfasst »mit häkchen strich apostroph«. Die sechs in Deutsch und Sorbisch abgedruckten Gedichte, die sich über den Band verteilt finden, führen auf verblüffende Weise vor Augen, was für einen Gewinn eine zweite angestammte Literatursprache bedeutet. Im Jan Buck gewidmeten »Der rote baum« bzw. »Čerwjeny štom« werden die Eigenheiten in Schriftbild,
Wortlänge und Reim schon rein äußerlich sichtbar: »von weitem bäume / neidvoll tratschen / sucht szene im wald / kulisse im hinterhalt«; »štomy znazdala / blady šěrja / scena w lěsu / žada kulisu«.
Die Dichtung von Měrana Cušcyna ist dort am stärksten, wo sich ihr das widerspruchsreiche Leben in den Weg stellt und sie sich mit Wörtlichem wehrt: »im sarg wird kein platz sein / für blumenlose vasen«, heißt es in »Platzangst«; »nur den pullover / im muster der verlorenen augen / handgestrickt aus deinen gedichten / zeile ich drüber«. Die Ausflüge in Politik und Geschichte, die sie in einem Kapitel unternimmt, fallen ab gegen berührende Texte wie »Kamm out« oder »Wichtiges wort«, in denen sie sich mit Erkrankung und Tod auseinandersetzt. Das Glück der Lektüre dieser Gedichte besteht darin, dass von vielfach aufscheinenden menschlichen Verwerfungen, Sprachstreitereien und ländlicher Ränke am Ende ein Eindruck von Witz und Leichtigkeit bleibt, ein bisschen verwunschen vielleicht.
Kito Lorenc hatte in den »Schmungks« seines eigenen Bandes in der »Reihe Neue Lyrik« (2015) unter dem Stichwort »Gedicht« notiert: »Ein Gedicht muss unklar sein. Über etwas, das sich von selbst versteht, muss man kein Gedicht machen.« Darin sind sich wohl auch Bertram Reinecke und Měrana Cušcyna vollkommen einig.
Měrana Cušcyna: »innen bröckelt die unerhörte schicht«, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2023 (Reihe Neue Lyrik. Band 26), 136 Seiten, 19,80 Euro.
Bertram Reinecke: »Daphne, ich bin wütend«, Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2024 (Reihe Neue Lyrik, Band 27), 164 Seiten, 19,80 Euro.