In Tschechien hat man sehr lange auf den neuen großen Roman gewartet. Ein Buch, das von (fast) allen gelesen und überall diskutiert wird. Aber das Warten auf den großen Roman gehört in die Zeit, als Literatur noch eine der wenigen möglichen Freizeitbeschäftigungen war. Heute gibt es deutlich mehr Möglichkeiten. Aber es gibt auch noch Menschen, die lesen. Und in letzter Zeit feiert Literatur in Tschechien sogar spürbare Erfolge bei der Leserschaft – als gäbe es auf einmal »etwas, was man lesen und auch zu Ende lesen kann«. Auch das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Schreibenden hat sich verändert – zugunsten von Frauen.
Eine gute Nachricht für viele Themenbereiche, die man traditionellerweise eher mit Frauen in Verbindung bringt. Am Ende also kein großer Roman, wobei die jüngere Generation womöglich auch gar nicht mehr darauf wartet, im Gegenteil, sie schätzt die guten »kleinen« Romane und Gedichtsammlungen, von denen in letzter Zeit einige erschienen sind. Und die greifen formell und inhaltlich aktuelle gesellschaftliche Themen auf – Erwachsenwerden auf der Peripherie in den Neunzigern, Elternschaft, alternde Frauen, Klimakrise, die schwierige Bildungssituation hierzulande und so weiter und so fort.
Es hat lange gedauert, bis in der tschechischen Literatur auch migrantische und andere Minderheitenstimmen überhaupt zu Wort kamen. Es lag nicht daran, dass es solche Stimmen nicht gab, nur hat sie keiner gezielt gefördert und ihnen Raum gegeben. Im letzten Jahr wurden gleich zwei Autoren, die zur Diversität der aktuellen tschechischen Literaturszene beitragen, für den renommierten Literaturpreis Magnesia Litera nominiert – Zofia Bałdyga und Alexej Sevruk. Als kurz darauf der Literaturbetrieb von einer polnischen, in Prag lebenden Bohemistin und Jurorin in der Kategorie Lyrik kritisiert wurde, schlug der tschechische Kleingeist wieder einmal heftig um sich. Aber es gab auch deutliche Gegenstimmen. Es gleicht sich also etwas aus.
Manchmal werden die ruhigen Gewässer des tschechischen Literaturbetriebs durch ein Drama aufgewirbelt und »es wird diskutiert«. Zum Beispiel als Alena Mornštajnová ihren Roman »Les v domě« (deutsch: »Wald im Haus«, Wieser 2024) veröffentlichte, in dem es um sexuellen Missbrauch geht, und die tschechische Illustratorin und Zeichnerin Toy Box darin ihre eigene Geschichte erkannte, die sie zuvor im Internet publik gemacht hatte. In solchen Situationen hat dann plötzlich jeder eine Meinung, obwohl das Buch nur die wenigsten gelesen haben. Die Vehemenz, mit der da jedes Mal in den Kampf gezogen wird, ist schon beeindruckend. In diesen Momenten scheint es, als wäre Literatur doch noch nicht etwas so Archaisches wie Häkeln, in diesen Momenten ist sie der Pflug in noch unbeackerten Feldern. Denn natürlich ist das Facebook heute genau für so etwas gemacht: Barrikaden bauen und Klicks sammeln (und für einige wenige viel Geld bringen). Also klicken und streiten wir. Aber wir lernen auch: Dass das keine wirkliche Diskussion ist, dass wir in Tschechien bis jetzt noch nicht mit sensiblen Themen umgehen können, dass die Literaturkritik ihre Grenzen hat.
Als im vergangenen Jahr Libor Staněk in seinem Artikel »Der Kritiker ist kein Therapeut« (H7O) behauptete, in der aktuellen Kunstkritik und gleich auch in der ganzen Gesellschaft herrsche ein Terror der Empathie, löste er damit einen Skandal aus. Der tschechische Literaturbetrieb ist nicht groß, die Literaturkritik infolge der medialen Krise fast ausgestorben, und die wenigen Besprechungen, die noch irgendwo erscheinen, reflektieren nur einen sehr kleinen Ausschnitt dessen, was tatsächlich publiziert wird und auf Interesse stößt – und meistens stammen sie von gut situierten Männern, die mit dem Schreiben über Literatur ihr Ego streicheln wollen. Und die sind, da die meiste Literatur in Tschechien heute von Frauen geschrieben wird, von den Texten oft eher verwirrt. Es gibt mittlerweile so wenig Platz für Literaturkritik, dass auf Bücher fast nur noch mit Daumen hoch oder Daumen runter reagiert wird, statt sich mit einem Buch, seinem Aufbau und seiner Sprache kritisch auseinanderzusetzen.
Die Zeit verlangt nach neuen Formaten. So bespricht zum Beispiel eine Literaturpublizistin auf Instagram unter dem Namen »Tady_je_stepancino« aktuelle Bücher und muss erst gar nicht versuchen, die Hindernisse in den meist von Männern geleiteten Zeitschriftenredaktionen zu überwinden. Die Menschen zahlen für die Beiträge über die Zahlungsplattform Forendors, und wahrscheinlich verdient sie so deutlich mehr Geld, als sie für Rezensionen in einer Kultur- oder Literaturzeitschrift bekommen würde (nämlich: kaum etwas).
Auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht den Eindruck macht – die tschechische Literatur ist gerade in einer guten Verfassung. Dennoch braucht es noch viel mehr Stimmen von jenen, die wenig präsent sind: Menschen am gesellschaftlichen Rand, Arme, Menschen aus der Peripherie, Pflegende, Kranke, oder Menschen, die sich nicht für Kunst interessieren oder Literatur sogar verachten. Weil sie eben nicht damit rechnen, dass da ihre Stimme frei und vielschichtig erklingen könnte. Dass auch sie der Welt etwas erzählen können, etwas Neues und Eigenwilliges.
Aus dem Tschechischen von Martina Lisa